30. Oktober 2015

Smartville: Eisiger Wind der Globalisierung

Die Phase der "Hyperglobalisierung“ (s. vorstehender Eintrag) mag der Vergangenheit angehören; doch der Wind der „gewöhnlichen Globalisierung“ weht noch. Ein vielsagendes Beispiel dafür lässt sich derzeit in der Smart-Produktionsstätte von Daimler Benz im lothringischen Hambach beobachten. Vor nunmehr rund 20 Jahren siedelte der Konzern die Produktion des Smart dort an – nicht ohne zahlreiche Standortvorteile in Form infrastruktureller Vorleistungen und Steuerbefreiungen einzuheimsen. Nicht zuletzt deshalb arbeitet das Werk bis heute profitabel, auch wenn es der vielfach als zu restriktiv verteufelten französischen Arbeitsgesetzgebung, darunter der 35-Stunden-Woche, unterliegt. Doch jetzt soll „Smartville“ zum Hebel des sozialen Rollbacks gemacht werden, das von der Regierung des sozialistischen Präsidenten Hollande in Szene gesetzt wird.

Im Zentrum steht der Versuch, die unter dem früheren sozialistischen Präsidenten Lionel Jospin 1998 eingeführte 35-Stunden-Woche wieder abzuschaffen, um sich stärker dem „deutschen Modell“ anzunähern. Die Geschäftsleitung hat dazu den „Vorschlag“ lanciert, die Belegschaft solle 4 Stunden pro Woche länger arbeiten, dabei aber nur für 2 Stunden entlohnt werden. Die Unternehmensführung wirbt mit der Behauptung, die Mehrheit der Beschäftigten habe sich für die Annahme des „Vorschlags“ ausgesprochen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit: Lediglich die Techniker und Angehörigen des Managements sind dafür; die Montagearbeiter sprachen sich mehrheitlich dagegen aus. Parallel dazu ließ die Unternehmensspitze das Gerücht durchsickern, die Smart-Produktion könne jederzeit auch nach Slowenien verlagert werden – zu erheblich günstigeren Kosten, versteht sich.

Da die so oft bemühte Konkurrenzfähigkeit im Falle von Smartville außer Frage steht und selbst der Chef der Personalabteilung nicht daran glaubt, bei 4 Stunden Mehrarbeit konkurrenzfähiger zu werden, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Es geht ums Prinzipielle, nämlich die 35-Stunden-Woche. Das sehen auch die beiden großen Gewerkschaften, CFDT und CGT, die mit der Sache zu tun haben, so. Sie haben jetzt gegen das Vorhaben der Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Weigerung, die zusätzlich geleistete Arbeit voll zu bezahlen, erst einmal ihr Veto eingelegt. Das ist nach französischem Arbeitsrecht möglich, beantwortet jedoch noch nicht die Frage, wie lange sie dem eisigen Wind der Globalisierung noch standhalten können. Die Regierung und die französischen Arbeitgeberverbände scheinen entschlossen, die geltenden Branchentarifverträge zugunsten betrieblicher Abmachungen mehr und mehr zu durchlöchern. Der Wind der Globalisierung und der Druck des „deutschen Modells“ helfen ihnen dabei.

12. Oktober 2015

TTIP-Proteste: Barrieren gegen neue Hyperglobalisierung

So mancher rieb sich am Wochenende verwundert die Augen, als die Zahlen von der Stopp-TTIP-Demonstration in Berlin bekannt wurden. Die hastig mittels Großanzeigen des Bundeswirtschaftsministers gestartete Gegenpropaganda hatte nicht verfangen. Zwischen 150.000 und 250.000 Menschen gingen zu einem lauten Nein gegen die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen den USA und der EU auf die Straße. Eine besonders eigenartige Erklärung hielt da heute Morgen der Kommentator der FAZ bereit: „Die besseren Argumente gibt es für TTIP, auf der Straße aber ist das Nein leichter zu vermitteln.“ (Carsten Knop) Soll wohl heißen: Die auf der Straße sind taub für Argumente oder haben gar keine. Nichts freilich könnte mehr danebenliegen. Eines der Argumente gegen TTIP hatte Herbert Prantl noch am Freitag in der Süddeutschen formuliert: „Angesichts der Flüchtlingskrise ist es auch notwendig, den Freihandel nicht länger so zu betreiben, dass er die Wirtschaft der Entwicklungsländer zerstört und die Menschen in die Migration treibt.“

Das Thema Handel bzw. Welthandel bewegt die Menschen derzeit so stark wie noch nie – nicht nur wegen der vielfältigen Auswirkungen, die von Megaprojekten wie TTIP (oder auch vom pazifischen Pendant TPPA) befürchtet werden. Es herrscht der Eindruck, dass über den Umweg des Handels so ziemlich alle Errungenschaften, von sozialen und ökologischen Standards, von einer gesunden Ernährungsweise über den Schutz der Kultur, von den Regulierungskapazitäten der Staaten bis zu Grundlagen der Demokratie, ausgehebelt werden sollen. Dabei entwickelt sich der Welthandel derzeit real in recht unspektakulären Bahnen. Nach der letzten Prognose der Welthandelsorganisation (WTO) wird der globale Güterhandel im laufenden Jahr nur um 2,8% wachsen, während der IWF ein Output-Wachstum der Weltwirtschaft von 3,1% erwartet. Dies ist jetzt bereits das vierte Jahr, in dem der Welthandel nur genauso stark oder sogar weniger stark wächst als die Weltwirtschaft insgesamt. Welch ein Unterschied zu dem Wachstumsmuster vor der globalen Finanzkrise von 2008, als der Handel weltweit regelmäßig doppelt so stark oder stärker anstieg als die reale Produktion!

Nicht wenige interpretieren das neue Muster so, dass die Globalisierung ihren Zenit überschritten hat bzw. die Ära der „Hyperglobalisierung“ beendet ist. Auch die Stockungen in den  WTO-Verhandlungen und jetzt die wachenden Proteste gegen TTIP können so interpretiert werden. Ein Hauptziel von TTIP und seiner Schwester der Transpazifischen Partnerschaft (TPPA) wäre es dann, die gegen eine neue Hyperglobalisierung gewachsenen Barrieren wieder einzureißen. Dass auf diesem Weg die Wiederbelebung des Handels gelingt, darf bezweifelt werden, schon deshalb, weil die Expansion des Handels gewöhnlich der Steigerung des Outputs folgt, und nicht umgekehrt. 

Dass sich eine wachsende internationale Öffentlichkeit gegen eine neue Ära der Hyperglobalisierung stemmt, verbessert die Chancen dafür, zunächst einmal über die Gestaltung des Handels zu reden, bevor ihm freier Lauf gelassen wird. Diese Regeln sollten freilich von allen in einem multilateralen Prozess ausgehandelt werden, nicht von exklusiven und exkludierenden Verhandlungsklubs. Die Verhandlungen über TPPA sind zwar inzwischen abgeschlossen. Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte, selbst wenn seine Befürworter diesen Abschluss wie einen Triumpf gegenüber den Ausgeschlossenen gefeiert haben: „Wir können nicht Länder wie China die Regeln der globalen Ökonomie schreiben lassen. Wir sollten diese Regeln selbst schreiben“, begründet US-Präsident Obama das TPPA-Projekt. Auch die TTIP-Kritiker sollte dies aufhorchen lassen.

9. Oktober 2015

IWF und Weltbank, die Krisen und das Steuerungsdefizit der Weltwirtschaft

Zum Auftakt der Jahrestagung von IWF und Weltbank in Lima/Peru habe ich Martin Ling ein Interview gegeben, das heute in der Tageszeitung Neues Deutschland erschienen ist. Es hat folgenden Wortlaut:


Der Internationale Währungsfonds sieht für 2015 eine leichte Erholung bei den entwickelten Volkswirtschaften im Vergleich zum Vorjahr und eine Verlangsamung bei den Schwellenländern. Für beide Ländergruppen sieht der IWF eine wirtschaftliche Erholung im Jahr 2016. Das hört sich unspektakulär an. Befindet sich der globale Kapitalismus derzeit in vergleichsweise ruhigen Gewässern?
Das wäre eine ziemlich beruhigende Diagnose für ein kapitalismuskritisches Blatt. Ironischerweise sind aber die offiziellen Warnungen, die jetzt vor und auf der Jahrestagung von IWF und Weltbank geäußert werden, wesentlich dramatischer. Der IWF spricht in seinem aktuellen World Economic Outlook beispielsweise davon, dass das globale Wachstum das niedrigste ist, das wir in den vergangenen Jahren seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 erlebt haben. Die Schwellenländer befinden sich jetzt im fünften Jahr in Folge in einer Situation rückläufiger wirtschaftlicher Dynamik. Andere gehen sogar noch weiter, wie der ehemalige Finanzminister der USA, Larry Summers. Er hält die Gefahrenmomente über der Weltwirtschaft für so ernst wie noch nie seit der Lehman-Pleite 2008.

Was sind denn die zentralen Ursachen für die Wachstumsschwäche bei den Schwellenländern?
Es gibt vielfältige Faktoren, die für die Schwierigkeiten der Schwellenländer derzeitig verantwortlich sind. Man kann sie keineswegs alle über einen Leisten schlagen. Aber ein wichtiges Element ist zweifellos der Einbruch bei den Rohstoffpreisen, der in eine längere Phase niedrigerer Preise münden könnte. Das trifft die rohstoffabhängigen Länder naturgemäß schwer, andere aber, wie Indien beispielsweise, profitieren von dieser Situation, weil sie rohstoffimportabhängig sind. Hinzu kommen die Unsicherheiten, die allein durch die Ankündigung einer Wende in der US-Zinspolitik geschaffen wurden. Allein die Aussicht auf steigende Zinsen ließ Kapital abfließen und dämpfte das wirtschaftliche Wachstum bei den Schwellenländern. Das war sozusagen der Auftakt zu einer Umkehr der Kapitalströme. Die Schwellenländer werden jetzt in diesem Jahr wahrscheinlich das erste Mal seit 30 Jahren einen Nettokapitalabfluss erleben. Der Wind hat sich gedreht: Lange waren die Schwellenländer Ziel für ausländisches Kapital, nun werden sie zu Ausgangspunkten neuer Krisen und zu Ländern, aus denen das ausländische Kapital flieht und wieder abfließt.

Wie steht es um interne Faktoren, die zur Schwäche der Schwellenländer beitragen?
Die gibt es selbstverständlich auch, Korruptionsskandale zum Beispiel. Bei einigen Ländern wie Brasilien und Russland gibt es politische Versäumnisse. Wobei ich als wichtigstes Versäumnis ansehen würde, dass sie die Zeit der hohen Exporteinnahmen aus Rohstoffverkäufen ungenutzt verstreichen ließen, statt die einheimische Wirtschaft zu diversifizieren und damit unabhängiger gegenüber externen Schocks zu machen.

Der neue Chefökonom des IWF, Maurice Obstfeld, sieht das größte Destabilisierungspotenzial für die Weltwirtschaft neben der erwähnten Normalisierung in der US-Geldpolitik mit höheren Zinsen im Umbau der chinesischen Volkswirtschaft weg vom Export, hin zu einer stärkeren Binnenorientierung und Dienstleistungswirtschaft. Teilen Sie diese Einschätzung?
In Bezug auf China keinesfalls. Chinas Kurs, sich stärker sich an Binnenfaktoren zu orientieren, ist wirtschaftspolitisch auf alle Fälle sinnvoll. Und es ist auch klar, dass die Zinspolitik nicht auf diesem extrem niedrigen Niveau bleiben kann, wie in den vergangenen Jahren. Dass von diesen gesunden Entwicklungen Destabilisierungspotenzial ausgeht, liegt daran, dass es kein System der Global Governance gibt, keine kooperative, multilaterale Gestaltung der Globalisierung. Damit könnten die Effekte, die daraus für andere Länder resultieren, gesteuert und minimiert werden.
Nicht die chinesische Wirtschaftspolitik oder das abnehmende Wachstum in China ist eine Hauptgefahrenquelle für die Weltwirtschaft, sondern dass wir viele rohstoffabhängige Ökonomien haben mit hohen Auslandsschulden, die in Dollar denominiert sind. Jeder Zinsanstieg in den USA wird die Schuldenlast erhöhen. In Kombination mit niedrigeren Exporteinnahmen aufgrund des Rohstoffpreisverfalls kann das zu fatalen Folgen führen und eine neue Welle von Schuldenkrisen in Entwicklungs- und Schwellenländern auslösen. Der aktuelle Global Financial Stability-Report des IWF simuliert eine solche Situation und kommt zu dem Ergebnis, dass mehrere parallele Schuldenkrisen im Süden sehr wohl zu einer neuen globalen Finanzkrise mit einer anschließenden neuen globalen Rezession eskalieren könnten.

Es ist inzwischen beinahe fünf Jahre her, dass der IWF-Exekutivrat eine weitreichende Reform seiner Quoten- und Leitungsstruktur beschlossen hat. Unter anderem sollte dadurch den Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft Rechnung getragen und den Schwellen- und Entwicklungsländern mehr Mitsprache eingeräumt werden. Bis jetzt ist das durch die Sperrminorität der USA verhindert worden. Gibt es großen Unmut darüber oder gar Sprengstoff für die jetzige Tagung?
Es gibt diesen Unmut. Zur Sprengung der Tagung dürfte er indes nicht reichen. Zudem war es eigentlich auch keine weitreichende, sondern eine bescheidene Reform, die da realisiert werden sollte. Aber da das alles stagniert, greifen die Schwellenländer zu alternativen Instrumenten. In diesen Kontext fällt die Gründung der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) oder die von China initiierte Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) im vergangenen Jahr. Das erhöht selbstverständlich weiter den Druck auf den IWF und auf die Weltbank, bei der im Übrigen ein ähnlicher Reformprozess angestoßen werden soll. Auch dort ist eine weitere Aufstockung der Mitspracherechte für die Schwellenländer im Gespräch. Es ist jedoch eher nicht damit zu rechnen, dass das den konservativen US-Kongress beeindruckt. Noch steht das US-Veto.

* Das Interview im Original findet sich >>> hier.

Neue Krisengefahren: Emerging Hotspots

Noch vor gar nicht langer Zeit wurden sie als die Lokomotiven der Weltkonjunktur gepriesen, inzwischen gelten sie vielfach als mögliche Ausgangspunkte einer neuen globalen Finanzkrise – die Emerging Economies oder Schwellenländer. Von einer Rotation der Risikofaktoren für die Finanzstabilität in die aufstrebenden Ökonomien spricht der neue Global Financial Stability Report (GFSR) des IWF, was umso bedeutender ist, als diese Länder heute eine beträchtlich höhere  Rolle in der Weltwirtschaft spielen als noch vor Jahren, als es gelang, Schuldenkrisen und ihre Effekte auf den Süden des Globus zu begrenzen. Dabei geht es nicht nur um die berühmten BRICS-Staaten, von denen zwei (Brasilien und Russland) bereits in einer offenen Rezession stecken und das größte unter ihnen (China) drastische Wachstumsrückgänge hinnehmen muss. Nach der JP Morgan-Bank zählen derzeit neben Südafrika auch Kolumbien, Mexiko, Indonesien und die Türkei zu den anfälligsten Schwellenländern.


Die Verwundbarkeit resultiert vor allem aus der Tatsache, dass sich seit der globalen Finanzkrise Kreditberge, und d.h. auch Schuldentürme, aufgebaut haben, die viele Emerging Market-Ökonomien anfällig machen für die kommenden Zinserhöhungen in den USA. Rohstoffabhängigkeit, ausstehende Dollar-Schulden, niedrigere Exporteinnahmen und ein Zinsschock stellen ein gefährliches Gemisch dar, zumal der Umkehr der Kapitalströme längst erfolgt ist und für die Emergings Markets in diesem Jahr erstmals seit 1988 ein Nettokapitalabzug von einer Billion Dollar erwartet wird – so schätzt das Institute of International Finance (IIF) in Washington.

Es wäre illusorisch zu glauben, dass sich die Industrieländer von diesen Entwicklungen abkoppeln könnten. „Verwundbarkeiten in Emerging Markets sind wichtig“, sagt José Viñals, der Chefautor des GFSR, „nimmt man ihre Bedeutung für die globale Ökonomie, ebenso wie die Rolle der globalen Märkte für die Übertragung von Schocks auf die Schwellenländer und die fortgeschrittenen Ökonomien. Die jüngsten Finanzmarktunruhen sind eine Demonstration dieser Materialisierung von Risiken.“ Und so könnte ein Szenario für die nächste Etappe schlimmstenfalls so aussehen: Eine neue Welle von Schuldenkrisen im Süden wächst sich zur globalen Finanzkrise aus, die auch den Norden erfasst. Natürlich wäre von einem solchen Szenario auch die Realwirtschaft betroffen. Es könnte nach IWF-Schätzungen den weltweiten Output bis 2017 um 2,4% nach unten drücken. Angesichts der ohnehin schwachen Prognosen wäre dies der Fall einer neuen Großen Rezession. Nur, ob sie so groß wird wie im Anschluss an die letzte globale Finanzkrise – darüber grübeln die Auguren noch.

8. Oktober 2015

Neue Krisengefahren: Wie ernst nehmen IWF und Weltbank die eigenen Warnungen?

Am Vorabend der Jahrestagung von IWF und Weltbank, die in diesem Jahr vom 9.-11. Oktober in Lima/Peru stattfindet, mehren sich die Stimmen, die nach effektiven politischen Maßnahmen gegen die globale Konjunkturverlangsamung rufen. Während der globale Dachverband der Gewerkschaften ITUC die internationalen Finanzinstitutionen auffordert, die von ihnen benannten Risikofaktoren der weltwirtschaftlichen Entwicklung ernst zu nehmen, waren  die weltwirtschaftlichen Gefahren für den ehemaligen US-Finanzminister Lawrence Summers seit der Lehman-Pleite 2008 nie so groß wie heute. Höchste Zeit sei es für den Übergang zu einer expansiven Wirtschaftspolitik.


In seinem neuesten World Economic Outlook hat der IWF seine Wachstumsprognose zum siebten Mal nach unten korrigiert und versichert, mit 3,1% sei das globale Wirtschaftswachstum das niedrigste seit der Großen Rezession 2008/2009. Die Schwellenländer weisen jetzt im fünften Jahr in Folge eine Verlangsamung ihres Wachstums auf. Und das Risiko einer weiteren Verschlechterung, bis hin zu einer globalen Rezession, ist für den Fonds stärker ausgeprägt als noch vor ein paar Monaten. Droht aus der „neuen Mittelmäßigkeit“ (so IWF-Chefin Lagarde vor einem Jahr) eine neue Abwärtsspirale der Weltwirtschaft zu werden?

Zwei große Länder, Brasilien und Russland, sind bereits in der Rezession. Und diese könnte sich – mit dem reduzierten Wachstum in China – schnell auf andere Länder ausweiten, so ITUC-Generalsekretärin Sharan Burrow: „Die Internationalen Finanzinstitutionen müssen die Rezessionsdrohungen ernst nehmen und Investitionen in die soziale und physische Infrastruktur sowie in grüne Technologien fördern, um die globale Arbeitsplatzlücke zu verringern.“ Burrow macht insbesondere den IWF dafür verantwortlich, vor fünf Jahren den Wechsel zur Austerität vollzogen zu haben und damit zur seither anhaltenden Verschlechterung des Wachstums beigetragen zu haben. Selbst das IWF-eigene Unabhängige Evaluierungsbüro bewertete im letzten Jahr die Förderung der fiskalischen Konsolidierung als „verfrüht“. Sie kritisiert ferner, dass der IWF in vielen Ländern mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Deregulierung der Arbeitsmärkte unter Einschluss des Abbaus der tarifvertraglichen Rechte vorangetrieben habe. Summers sekundiert ihr heute: Überfällig seien die Abkehr von der Rhetorik der Strukturreformen und neue fiskalische Stimulierungsmaßnahmen.

7. Oktober 2015

G20/OECD/BEPS: Bauchlandung statt Systemwechsel

Traditionell treffen sich die Finanzminister der Gruppe der 20 (G20) morgen im Vorfeld der Jahrestagung von IWF und Weltbank in Lima/Peru. In diesem Jahr haben sie den soeben veröffentlichten Abschlussbericht zur „Erosion der Steuerbasis und zur Profitverlagerung“ (BEPS) auf dem Tisch, den sie vor zwei Jahren bei der OECD in Auftrag gegeben haben. Damit sollte den Steuervermeidungsstrategien der Transnationalen Konzerne ein Riegel vorgeschoben und sicher gestellt werden, dass diese ihre Steuern dort bezahlen, „wo ihre wirtschaftlichen Aktivitäten stattfinden und die Werte geschaffen werden“. Heißt also die Verschiebung von Gewinnen in die Länder mit den niedrigsten Steuertarifen oder sonstigen Vergünstigungen sollte nicht mehr möglich sein. Doch diese Chance wurde ebenso verpasst wie das Versprechen, die Entwicklungsländer, die auch nach OECD-Aussagen von den Steuervermeidungsstrategien der Konzerne besonders stark betroffen werden, angemessen zu beteiligen.


Die BEPS-Initiative behandelt multinationale Unternehmen nämlich steuerlich weiterhin so, dass Mutter- und Tochterfirmen in einzelnen Staaten getrennt betrachtet sowie besteuert werden. Zugleich wird am System der Verrechnungspreise für konzerninterne Transaktionen zwischen Mutter- und Tochterunternehmen festgehalten, das bislang ein Hauptinstrument der Gewinnverschiebung war. Für Markus Henn von WEED wäre stattdessen ein Systemwechsel zur Gesamtkonzernsteuer angemessen. „Dabei wird ein Konzern als das betrachtet, was er ist: eine große Einheit mit einem Gesamtgewinn, der dann auf die betroffenen Staaten aufgeteilt werden kann.“ Zwar spiele die stärkere Verwendung der Gesamtkonzernbetrachtung eine Rolle bei einigen BEPS-Maßnahmen. Im Wesentlichen würden aber nur neue Detailregeln zum System der Verrechnungspreise hinzugefügt, so Henn.

Auch viele Einzelmaßnahmen von BEPS bleiben hinter dem von der OECD verkündeten Durchbruch zurück. Besonders der Kompromiss bei den Sondersteuern („Boxen“) für Patente setzt ein falsches Signal. „Statt allen Sondersteuern einen Riegel vorzuschieben, wird nur eine besonders schädliche Form unterbunden, dafür aber der Rest umso mehr legitimiert“, kritisiert Markus Henn. „Das wird zu einer stärkeren Verbreitung von solchen Boxen führen. Der Ansatz für die Prüfung der zulässigen Boxen ist außerdem so komplex, dass er in der Praxis wahrscheinlich missbraucht werden wird.“ – Ein Fortschritt sind die länderspezifischen Berichte zu Geschäften und Steuerzahlungen, die Unternehmen an Behörden melden sollen. Aber die wichtigsten Daten aus den Berichten sind nicht öffentlich. So bleibt das volle Potential der Berichte ungenutzt, weil Medien und Zivilgesellschaft die Aktivitäten der Unternehmen und der Behörden nicht durchschauen können. Und selbst für manche Behörden könnte der Zugang nicht gesichert sein, da die direkte Meldung der Berichte nur an das Sitzland eines Unternehmens erfolgen soll. Wenn dieses Land eine Steueroase wie die Niederlande oder die Schweiz ist, könnte es bei der eigentlich vorgesehenen Weitergabe von Daten zu Problemen kommen.

Auch die Einbeziehung der Masse der Entwicklungsländer in BEPS lässt zu wünschen übrig. Ihnen wird jetzt anheimgestellt, das BEPS-Modell im Rahmen eines Forum-Ansatzes einfach zu übernehmen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass über 100 Länder schlicht vom Entscheidungsprozess über die neuen Maßnahmen ausgeschlossen waren. Sie waren nie zu den einschlägigen Treffen eingeladen, sondern hatten allenfalls die Möglichkeit, wie zivilgesellschaftliche Organisationen oder Interessenvertreter der Wirtschaft in Konsultation Kommentare abzugeben.

Die OECD hat jetzt erstmals eine (konservative) Schätzung genannt, wie viel Geld den Staaten durch die aggressiven Steuervermeidungsstrategien der Konzerne pro Jahr verloren geht: 100-240 Mrd. US-Dollar. Wenn das Gros dieser Verluste wirklich zu Lasten der Entwicklungsländer geht, wie man aus den Einlassungen der OECD schlussfolgern kann, hätten sie mehr Beteiligung verdient.

6. Oktober 2015

Weltbank: Aufstockung des Kapitals und Absenkung der Standards?

Der Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen hat uns mit einem ehrgeizigen Set an 17 Entwicklungszielen und der Agenda 2030 zurückgelassen, doch mit einer gähnenden Leere, was neue Finanzmittel betrifft, die zu ihrer Umsetzung notwendig wären. Aber schneller als erwartet versucht nun eine alte Bekannte, die Weltbank, aus dieser Situation Kapital zu schlagen. Die neuen globalen Ziele im Verein mit der jüngsten Konjunkturverlangsamung in den Schwellenländern, so argumentiert Weltbank-Präsident Jim Kim auf der Jahrestagung der Bretton-Woods-Zwillinge in Lima/Peru diese Woche, führten zu einer stark steigenden Nachfrage nach Weltbank-Krediten. Diese könnte nur befriedigt werden, wenn die Kapitalbasis der Bank (genauer gesagt: ihres zentralen Arms, der International Bank for Reconstruction and Development), die sich derzeit bei 253 Mrd. Dollar beläuft, kräftig erhöht wird.

Jim Kim hält den Zeitpunkt für eine weitere Kapitalerhöhung der Bank für günstig, zumal sich mit der BRICS-Bank und der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) derzeit zwei ernst zu nehmende Konkurrenten der Weltbank etablieren. Doch sind da nicht nur die rechten Republikaner im US-Kongress, die normalerweise gegen alle Finanzmittel Sturm laufen, deren Zweck international riecht. Die Weltbank durchläuft derzeit auch selbst einen Überprüfungsprozess ihrer Sozial- und Umweltstandards (sog. safeguards), an dessen Ende sie ohne ihr Hauptargument dastehen könnte, das die hauptsächlich westlichen Anteilseigner gegen die neue Konkurrenz aus dem Süden ins Feld führen. Umwelt- und Entwicklungsorganisationen warnen derzeit nämlich davor, dass der laufenden Prüfungsprozess zu einer Absenkung der Standards führen und die Bank auf diese Weise ihr angebliches Spitzenniveau in der Welt einbüßen könnte.

Derzeit wird der zweite Entwurf für die Überarbeitung der safeguards diskutiert, der Anfang August veröffentlicht wurde. Den ersten Entwurf gab die Weltbank im Juli 2014 heraus. Nach bisherigen Plänen sollen die neuen Standards bis zum Jahresende verabschiedet werden, wobei eine Verzögerung bis ins nächste Jahr hinein wahrscheinlich ist. Die Schutzstandards gelten für alle Förderprojekte der Weltbank, die über Regierungen finanziert werden. Schon der erste Reform-Entwurf enthielt eine massive Verwässerung von Schutzstandards. Auch der neue Vorschlag für das sog. Environmental & Social Safeguards Framework würde die Vorgaben empfindlich schwächen. Danach sollen die Standards in Zukunft weitgehend in das Ermessen der Nehmerländer fallen, statt wie bisher verbindlich zu sein. Bei so fundamentalen Bedingungen wie der Wahrung der Rechte indigener Gemeinden oder der Erhaltung empfindlicher Ökosysteme will die Bank die Überwachung also abgeben.

Auch bei den einzelnen Standards zeigt der Text gravierende Schwächen. Beispiel Menschenrechte: Weiterhin weigert sich die Weltbank, bei Großstaudämmen und anderen hochriskanten Projekten zu prüfen, ob diese zu Menschenrechtsverletzungen beitragen oder sie verschärfen. Beispiel Sicherheitskräfte: Die Bank schlägt vor, die Anwendung von „präventiver“ Gewalt durch staatliche oder private Sicherheitskräfte in Nehmerländern zu erlauben. Beispiel Konsultationen: Die bisherige Praxis, betroffene Gemeinden bei riskanten Projekten vorab über mögliche Auswirkungen zu informieren und zu konsultieren, soll wegfallen.

Wie wichtig verbindliche Standards und ihre kontinuierliche Überprüfung durch die Bank sind, zeigt sich zum Beispiel bei Zwangsumsiedlungen. Im März dieses Jahres musste Kim zugeben, dass Schutzmaßnahmen für Menschen, die durch Weltbank-Projekte von Zwangsumsiedlungen betroffen waren, schlecht umgesetzt wurden. Die Bank hatte fatalerweise nicht verfolgt, was mit den Menschen geschah. Ob es da ein kluger Schachzug ist, die Forderung nach einer Kapitalerhöhung zu einem Zeitpunkt zu erheben, zu dem die Bank dabei ist, ihre eigenen Sozial- und Umweltstandards weiter abzusenken? Mit den soeben beschlossenen nachhaltigen Entwicklungszielen hätte dies jedenfalls nichts zu tun.