20. Dezember 2015

Ungewisse Zukunft der Doha-Runde, Ende der Agrar-Exportsubventionen, Widerstand gegen neue Themen

Den USA, der EU und Japan ist es bei der 10. Ministerkonferenz der WTO nicht gelungen, die Doha-Runde abzubrechen und neue Themen auf die Agenda zu setzen. Trotz großen Drucks vor allem von Seiten der USA, der dazu führte, dass die Konferenz im bei der WTO üblichen Drama um 30 Stunden verlängert werden musste, beharrte die große  Mehrheit der Entwicklungsländer darauf, an den Zwischenergebnissen der Doha-Runde festzuhalten. Die Ministererklärung enthält keine Kompromissformulierung, sondern beschreibt beide Positionen. Ein Weg, um die Verhandlungen fortzusetzen, soll daher erst nach der Nairobi-Konferenz gefunden werden. Bevor neue Themen verhandelt werden, müssen alle Mitglieder der WTO zustimmen.


Damit haben die Entwicklungs- und Schwellenländer verhindert, dass sich ein Szenario wie bei der Doha-Ministerkonferenz vor 14 Jahren wiederholt, als Investitionen, Wettbewerbsrecht und öffentliche Beschaffung gegen ihren Willen ins Verhandlungsmandat aufgenommen wurden – um dann nach dem Scheitern der Cancún-Ministerkonferenz 2003 auf Druck der Entwicklungs- und Schwellenländer wieder aufgegeben zu werden. In Nairobi wurde nicht offen darüber debattiert, welche neuen Themen verhandelt werden sollen – aus der EU Delegation wurde aber bestätigt, dass zumindest Investitionen dazu zählen.

● Sofortiges Ende der Exportsubventionen (mit Ausnahmen): Ein aus entwicklungspolitischer Sicht erfreuliches Ergebnis ist, dass das sofortige Ende der direkten Exportsubventionen für landwirtschaftliche Güter beschlossen wurde. Diese werden zwar seit Beginn des Jahrtausends zwar kaum noch eingesetzt. Viele Industriestaaten, voran die EU, könnten sie aber jederzeit wieder einzuführen, wenn auch zu hohen politischen Kosten. Dass dies nun rechtlich unzulässig ist, ist daher ein Fortschritt. Die WTO wäre nicht die WTO, wenn es von dieser Regel nicht ein paar Ausnahmen gäbe. So dürfen Kanada, Norwegen und die Schweiz, die einzigen Länder die derzeit direkte Exportsubventionen für Milchprodukte und verarbeitete Lebensmittel zahlen, dies bis 2020 weiter tun. Die EU darf die Zuckermarktordnung, die indirekt Exportsubventionen beinhaltet, bis 2017 beibehalten – wenn sie ohnehin auslaufen wird. Zusätzlich hat sich die EU auch noch das Recht gesichert, bis 2020 den Export von knapp 100.000 Tonnen Schweinefleisch zu subventionieren. Dass sie von diesem Recht Gebrauch machen wird, ist angesichts der andauernden Preiskrise auf dem EU Schweinefleischmarkt zumindest nicht auszuschließen. In fünf Jahren werden Exportsubventionen allerdings endgültig der Geschichte angehören.

Für andere Instrumente, mit denen Exporte gefördert werden, gibt es dagegen kaum Einschränkungen. Vielmehr wird die gegenwärtige Praxis der USA bei staatlichen Exportkrediten und Nahrungsmittelhilfe als zulässig festgeschrieben, und für staatliche Handelsunternehmen gibt es nicht viel mehr als den Appell, nicht handelsverzerrend zu agieren.

● Unverbindliche Versprechen für die LDCs: Neben dem verbindlichen Ende der Exportsubventionen wurden eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, mit denen die am wenigsten entwickelten Länder unterstützt werden sollen. Weder die besseren Ursprungsregeln noch der bessere Zugang zu den Dienstleistungsmärkten der Industriestaaten sind rechtlich verbindlich. Zu anderen entwicklungspolitisch wichtigen Themen  wie einem Schutzmechanismus gegen stark steigende Importe und mehr Rechte für Entwicklungsländer, öffentliche Lager für Nahrungsmittel betreiben, gab es in Nairobi keine Beschlüsse. Die internen Agrarsubventionen der Industriestaaten, die aktuell sehr viel größere Effekte auf die Weltmärkte haben als die wenigen verbleibenden Exportsubventionen, standen nicht einmal zur Diskussion.

● Zukunft der Doha-Runde offen: Wie es mit der Doha-Runde weitergehen wird, ist nach dieser Ministerkonferenz offener denn je. Dass die Entwicklungs- und Schwellenländern bald weitreichenden Verhandlungen zu neuen Themen zustimmen, ist genauso unwahrscheinlich wie dass die USA die bestehenden Entwürfe als Grundlage für weitere Verhandlungen akzeptieren. Der ursprünglich vorgesehene gemeinsame Abschluss aller Abkommen ist nach Bali und Nairobi ohnehin schon aufgeweicht. Denkbar ist, dass in Zukunft plurilaterale Abkommen wie das in Bali verkündete zum Freihandel mit Informationstechnologie, und das angeblich schon fast zu Ende verhandelte zu Umweltgütern eine stärkere Rolle spielen. Dabei einigen sich die wichtigsten Im- und Exporteure einer Produktgruppe oder eines Sektors auf die weitgehende Öffnung der Märkte. Während nur die Länder, die dem Abkommen beitreten, daran gebunden sind, kommen die Zollsenkungen, zu denen sie sich verpflichten allen WTO-Mitgliedern zu Gute. Die WTO könnte damit eine, wenn auch begrenzte Verhandlungsfunktion beibehalten. Angesichts insgesamt schon niedriger Zölle und sonstiger Handelsschranken, ist weitere Liberalisierung auch nur für wenige Probleme die angemessene Lösung.  Und ob die WTO jemals zu einem Forum werden kann, in dem die notwendige Re-Regulierung der Weltwirtschaft verhandelt werden kann, ist jedoch mehr als fraglich.

18. Dezember 2015

In Nairobi nur Minimalismus und Symbolismus

Von Tobias Reichert*) – Vor dem Hintergrund der ungelösten Frage nach der Zukunft der Doha-Runde insgesamt versuchen die WTO-Mitgliedsstaaten in Nairobi den Ansatz der letzten Konferenz in Bali zu wiederholen. Zu Einzelthemen der Doha-Agenda sollen separate Übereinkommen getroffen werden, die dann unabhängig vom Gesamtergebnis in Kraft treten können.


● Exportwettbewerb: Der wichtigste Themenbereich, zu dem eine Einigung möglich scheint, ist der Exportwettbewerb bei landwirtschaftlichen Gütern. Anders als noch in Bali ist die EU nun bereit, Exportsubventionen endgültig abzuschaffen, und hat sogar den seit gestern in Nairobi zirkulierenden Textentwurf maßgeblich mit vorbereitet. Das fällt ihr leicht, da die EU schon seit einigen Jahren keine Exportsubventionen mehr gewährt. Vor 30 Jahren wäre dieser Beschluss ein entwicklungspolitischer Meilenstein gewesen, nun verhindert er nur noch den Rückfall in alte Fehler.

Wird der Text verabschiedet, müssen alle Industriestaaten direkte Exportsubventionen bis 2020 abschaffen, Entwicklungsländer (die sie ohnehin nicht nutzen) bis 2023. Eine spezielle Ausnahme für Entwicklungsländer, die es ihnen erlaubt, die inländischen Transportkosten von Exportgütern zu subventionieren, soll sogar noch bis 2028 gelten. Die entwicklungspolitische Sinnhaftigkeit dieser Regel ist durchaus fragwürdig, eine Verkürzung der Frist wäre gegen den Widerstand großer Entwicklungsländer aber kaum durchzusetzen.

Noch hartleibiger zeigen sich die USA bei den Instrumenten zur Exportförderung, die sie einsetzen: staatlich gestützte Exportkredite und Nahrungsmittelhilfe. Um eine indirekte Subventionierung durch künstlich verbilligte Kredite zu verhindern, waren im letzten Vertragsentwurf aus den Doha-Verhandlungen strikte Kriterien für die Exportkreditprogramme definiert worden. So müssten diese sich selbst finanzieren, also Verluste innerhalb von vier Jahren durch eigene Einnahmen statt staatliche Zuschüsse ausgleichen. Zudem hätten Kredite nur für eine Laufzeit von 6 Monaten vergeben werden dürfen. Die USA hatten klargemacht, dass sie dem auf keinen Fall zustimmen würden. Der Vertragsentwurf sieht nun vor, dass Exportkredite bis zu 18 Monate laufen dürfen und sich nur "langfristig" selbst finanzieren müssen. Dass dies exakt den Bedingungen des aktuellen Exportkreditprogramms der USA entspricht, ist kein Zufall.

Auch bei der Nahrungsmittelhilfe bewegen sich die USA nicht: Sie bestehen darauf, diese auch weiterhin vor allem in Form von Naturalien statt Geld zu gewähren. Zudem sollen die als Hilfe gewährten Nahrungsmittel weiter in den Empfängerländern verkauft werden dürfen. Um dabei oft auftretende negative Effekte auf lokale Bauern und regionale Märkte zu vermeiden, sieht der Verhandlungstext vor, dass vorab eine Folgenabschätzung für die lokalen Märkte vorgenommen werden muss. Zudem sollen die Regierungen der Empfängerländer eine Art Vetorecht erhalten.  Ob die USA dem zustimmen werden, ist ungewiss.

Das mögliche Abkommen würde also im Kern nur die derzeitige Praxis der Industriestaaten festschreiben. Gleichwohl wäre das nicht sinnlos, da die EU nach bisherigem Stand das Recht hat, Exportsubventionen in Höhe von 6 Mrd. € zu zahlen und für Exportkredite und Nahrungsmittelhilfe praktisch gar keine Regeln bestehen.

● Baumwolle: Seit 2005 versprechen die WTO-Mitglieder den baumwollexportierenden Entwicklungsländern immer wieder, nicht nur Exportsubventionen, sondern auch handelsverzerrende interne Subventionen für Baumwolle ganz oder weitgehend abzuschaffen. Damit soll die unfaire Konkurrenz auf dem Weltmarkt verringert werden. Obwohl die Beschlüsse vorsehen, dies besonders eilig, vordringlich und unverzüglich zu tun, haben vor allem die USA als wichtiger Baumwollexporteur ihre Politik kaum verändert. Auch in Nairobi wird es keine greifbaren Fortschritte geben – mögliche Ausnahme sind die Exportsubventionen, die Industrieländer laut Entwurf sofort und Entwicklungsländer 2017 einstellen müssen. Da derzeit de-facto keine Exportsubventionen gezahlt werden, ist auch dieser Beschluss vor allem symbolisch.

● LDCs: Auch die Entscheidungen, die speziell den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) zu Gute kommen sollen, sind letztlich unverbindlich. Ein neues Papier, mit dem die Ursprungsregeln vereinfacht werden sollen, mit denen die importierenden Industriestaaten die Voraussetzung dafür definieren, dass Güter aus LDCs besseren Marktzugang bekommen, wirkt stellenweise wie Realsatire.
So sollen Länder, die die Wertschöpfung zum Kriterium machen, den Wert importierter Vorprodukte als Grundlage nehmen. Dies klingt verbindlich, wird aber durch den nächsten Satz ausgehebelt, dass Länder, die das jetzt anders machen, das auch in Zukunft tun können. Länder, die verlangen, dass ein Produkt so weiterverarbeitet wird, dass es in eine andere Zollkategorie fällt, sollen dazu keine zusätzlichen Beschränkungen und Ausnahmen einführen – außer wenn sie dies für notwendig erachten... In den übrigen Artikeln des Entwurfs wimmelt es von Begriffen wie "sollte", "in Betracht ziehen" und ähnlichem.

● Fischereisubventionen: Zu Beginn der Ministerkonferenz haben die AKP-Staaten und Peru gefordert, verbindliche Grenzen für Fischereisubventionen festzulegen. Ein Beschluss dazu ist unwahrscheinlich – ein Auftrag, bis zur nächsten Ministerkonferenz ein Abkommen zu verhandeln dagegen eher.

● Spezieller Schutzmechanismus für Kleinbauern: Die Forderung Indiens und 47 weiterer Entwicklungsländer mit überwiegend kleinbäuerlicher Landwirtschaft (G33), einen speziellen Schutzmechanismus gegen plötzliche Importanstiege einzuführen, ist in Nairobi kaum durchsetzbar. Zwar unterstützen wichtige Agrarexporteure wie Brasilien diese Position – allerdings im Kontext einer umfassenden Zollsenkung für Agrargüter. Da diese in Nairobi nicht zur Diskussion steht, hat die G33 nicht genügend Verbündete für ihre Forderung.

Das Ende der Exportsubventionen zeichnet sich damit als einziges konkretes Ergebnis der Nairobi Konferenz ab. Aus entwicklungspolitischer Sicht ist dies keine schlechte Entwicklung. Ob die Industriestaaten im Gegenzug die Öffnung der Verhandlungen für die neu-alten Themen Investitionen oder öffentliche Beschaffung durchsetzen können bleibt abzuwarten.

15. Dezember 2015

10. WTO-Ministerkonferenz in Nairobi: Totengeleut zum Auftakt

Von Tobias Reichert*) - 14 Jahre nach ihrem Beginn und zahlreichen Rückschlägen steht die als Doha-Entwicklungsagenda bezeichnete Verhandlungsrunde vor dem Aus. Die von Beginn an von Krisen, Zusammenbrüchen und Stillstand geprägten Verhandlungen sollen nach dem Willen der US-Regierung und mit Unterstützung von EU und Japan weitgehend ergebnislos abgebrochen werden. Nachdem die USA dies seit einigen Monaten hinter verschlossenen Türen in Genf fordern, hat der Handelsbeauftragte Froman gestern in einem Meinungsbeitrag für die Financial Times nachgelegt: In Nairobi, wo das 10. WTO-Ministerial heute begonnen hat, müsse ein neuer Ansatz für das multilaterale Handelssystem gefunden werden, da die Doha-Runde offensichtlich nicht zu Ergebnissen führe. Stattdessen schlägt er plurilaterale Verhandlungen zu „neuen Themen“ in der WTO oder ganz außerhalb nach dem Muster der pazifischen und atlantischen Handelsabkommen TTIP und TPPA vor. Dagegen fordert die übergroße Mehrheit der Entwicklungsländer, von Brasilien und Indien über die afrikanische Gruppe bis hin zu Venezuela, die Verhandlungen fortzusetzen und auf den bislang erzielten Zwischenergebnissen aufzubauen.


Diese Konstellation stellt die Verhältnisse von zu Beginn der Verhandlungen 2001 auf den Kopf. Damals musste die Mehrheit der Entwicklungsländer mit Appellen an die internationale Solidarität nach den Anschlägen vom 11. September, politischem Druck und einer Präambel die verspricht, die Interessen der Entwicklungsländer ins Zentrum der Verhandlungen zu stellen, dazu gebracht werden, einer neuen umfassenden Liberalisierungsrunde zuzustimmen. Auch von zivilgesellschaftlicher Seite wurde  heftig kritisiert, dass das Mandat der Doha Runde zwar viel von Entwicklung spricht, in der Substanz aber vor allem auf Marktöffnung und Deregulierung abzielt. Entwicklungspoltisch wichtige Fragen, wie verbesserte Möglichkeiten für Entwicklungsländer ihre kleinbäuerliche Landwirtschaft fördern und schützen zu können und industriepolitische Instrumente flexibler einsetzen zu können, dagegen gar nicht oder nur am Rande auftauchen.

Im Verlauf der Verhandlungen gelang es den in verschiedenen Koalitionen koordinierten Entwicklungsländern, die neuen Themen Investitionen, Wettbewerbsrecht und öffentliche Beschaffung aus Mandat herauszunehmen. Zudem konnten sie die Verhandlungen so beeinflussen, dass Entwürfe für ein mögliches Abkommen ihre Interessen, im Rahmen eines allgemein freihändlerischen Mandats, relativ weitgehend widerspiegeln. So würden Industriestaaten verpflichtet, ihre Exportsubventionen für landwirtschaftliche Güter vollständig abzuschaffen und als handelsverzerrend definierte interne Agrarsubventionen weitgehend zu reduzieren. Gleichzeitig könnten Entwicklungsländer zumindest einige für Ernährungssicherheit und ländliche Entwicklung wichtige Güter von der Liberalisierung auszunehmen und einen neuen Schutzmechanismus gegen Preisschwankungen in Anspruch nehmen. Zumindest kleine und verletzliche Entwicklungsländer würden auch weitgehend von Zollsenkungen für Agrar- und Industriegüter ausgenommen, die am wenigsten entwickelten Länder (LDC) ganz.

Zivilgesellschaftliche Gruppen aus Süd und Nord halten diese Zwischenergebnisse aus entwicklungspolitischer und menschenrechtlicher Sicht zwar nach wie vor für unzureichend. Den Industriestaaten, allen voran den USA gehen sie dagegen zu weit. Vor allem an den USA scheiterte daher der letzte ernsthafte Einigungsversuch 2008. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, war die Mehrheit der Entwicklungs- und Schwellenländer mit dem Stand der Verhandlungen zufriedener als die USA.

Nach der WTO-Konferenz von Bali 2013, die die jahrelang eingefrorenen Verhandlungen wiederbelebt hatte, zeigt sich, dass die Situation im Kern unverändert ist. Während die Entwicklungsländer auf Grundlage des 2008 erzielten Stands weiter verhandeln wollen, lehnen die USA dies ab und forderten die Verhandlungen auf einer neuen Grundlage fortzuführen. Nachdem sie sich damit nicht durchsetzen konnten, forderten sie zunächst hinter verschlossenen Türen, die Verhandlungen ganz zu beenden. Dass dies in Nairobi formal beschlossen wird, ist trotz Unterstützung durch EU und Japan unwahrscheinlich. Wie allerdings die Verhandlungen glaubhaft fortgesetzt werden können, wenn die weltgrößte Volkswirtschaft offen dagegen ist, ist völlig unklar.

Die Debatte um die Zukunft der Doha-Runde überlagert ansonsten mögliche positive Teilergebnisse in Nairobi, vor allem das Ende der staatlichen Förderung von Agrarexporten durch Subventionen oder staatliche Kreditprogramme. Die EU schlägt dies nun nach langem Widerstand selbst vor, trifft aber auf den Widerstand der USA, die ihre Exportkredite nicht einschränken wollen. – Die Tatsache, dass die Doha-Runde, bei der die Anliegen der Entwicklungsländer im Zentrum stehen sollten, nun - offiziell oder de facto - daran scheitern wird, dass diese sich zumindest teilweise durchsetzen konnten, ist ein besonders unerfreuliches Kapitel der internationalen Handelsdiplomatie.

*) Tobias Reichert blogt für W&E aus Nairobi. Er ist Teamleiter für Welthandel und Ernährungsfragen bei Germanwatch.

Nach dem Klimagipfel: Hypotheken bleiben

Für viele hat der Pariser Klimagipfel, die 21. Vertragsstaatenkonferenz (COP21) unter der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC), mehr gebracht, als sie erwartet hatten, wenngleich vieles halbherzig und ungenügend bleibt. Vor allem das Ziel, die Erderwärmung in den nächsten Jahrzehnten unter 2 Grad zu halten und womöglich das 1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen, hat es auch vielen Klimawissenschaftlern und NGOs angetan; schließlich haben sie dies jahrelang gefordert. Paris gilt als Wendepunkt hin zu einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft. Dass sich die Staaten in Paris verbindlich zu gar nichts verpflichtet haben und die Mittel zur Umsetzung des Vertragswerks alles andere als klar sind, wird zwar zur Kenntnis genommen, doch mit einem „Jetzt kommt es halt auf uns selbst an“ mehr oder weniger akzeptiert.


Natürlich muss die EU jetzt ihre zu wenig ambitionierten Reduktionsziele für 2020/2030 nachbessern, die Bundesregierung endlich den Kohleausstieg angehen. Doch die Lücke zwischen dem 2/1,5-Grad-Ziel und den vor und in Paris eingegangenen „Selbstverpflichtungen“ der Staaten ist so riesig und gigantisch, dass das schon revolutionäre Siebenmeilenschritte sein müssten und nicht kleine Nachkorrekturen. Während in Paris vollmundig das Ziel von unter 2 Grad verkündet wurde, laufen die Selbstverpflichtungen nach Schätzungen der Vereinten Nationen auf eine Erwärmung um 2,7 bis 3 Grad hinaus! Und wie die Dekarbonisierung bewerkstelligt werden soll, steht auch nicht fest. Einen Wall gegen die Zuflucht zur Atomkraft oder fragwürdige Technologien und Irrwege wie Geoengeneering, Fracking (CSS) oder Offsetting hat Paris jedenfalls nicht errichtet. Ob der Weg zur Nachhaltigkeit über Investitionen in erneuerbare, dezentrale und armutsorientierte Energien laufen wird, ist keineswegs ausgemacht.

Nicht nur wie der künftige Weg aussehen wird, ist unklar, auch ob er überhaupt gegangen wird, kann bezweifelt werden. Fossile Brennstoffe müssten jedenfalls deutlich teurer werden als die Erneuerbaren. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der Ölpreis steuert inzwischen auf ein Niveau zu, wie es zum letzten Mal vor der ersten Ölkrise 1973/74 üblich war. Ja, es gibt sie, die Schicht von Unternehmern, die auf ökologisches Umsteuern der Wirtschaft setzen. Doch es gibt auch die andere Seite: Die Delegierten hatten Paris noch nicht verlassen, da traten reihenweise Vorstandschefs der Öl- und Kohleindustrie an die Öffentlichkeit und erklärten, Paris ändere an ihrem Geschäftsmodell gar nichts. Beispielsweise sieht der Chef der World Coal Association Benjamin Sporton keinen Anlass zu massiven Veränderungen für die Branche. Die Ölindustrie, sagte ein anderer CEO der Financial Times, habe andere Sorgen als Paris. Was dort passiere, sei doch ein sehr langsamer Prozess. Es wäre zu schön, wenn die Herren nicht Recht behielten.

9. Dezember 2015

Toxische Ungleichheit

Gastblog von Joseph E. Stiglitz zum Nobelpreis für Angus Deaton

In dieser Woche wird Angus Deaton „für seine Analyse des Konsums, der Armut und des Gemeinwohls“ den Nobelpreis für Ökonomie erhalten. Und zwar verdientermaßen. Tatsächlich hat Deaton kurz nach Ankündigung der Preisvergabe im Oktober gemeinsam mit Ann Case in den Proceedings of the National Academy of Sciences eine alarmierende Arbeit veröffentlicht – Forschungsergebnisse, die mindestens so beachtenswert sind wie die Preisverleihung selbst.

Nach Analyse enormer Mengen an Kranken- und Sterbedaten von Amerikanern wiesen Case und Deaton einen Rückgang der Lebenserwartung und der Gesundheit weißer Amerikaner mittleren Alters nach, insbesondere solcher, die nur einen Highschool-Abschluss oder weniger vorweisen können. Zu den Ursachen zählen Selbstmorde, Drogenkonsum und Alkoholismus.

Amerika ist stolz darauf, eines der wohlhabendsten Länder der Welt zu sein, und kann damit prahlen, dass in jedem Jahr seiner jüngeren Vergangenheit bis auf eines (2009) das BIP pro Kopf gestiegen ist. Und ein Zeichen von Wohlstand sollen eigentlich ein guter Gesundheitszustand und ein langes Leben sein. Doch während die USA mehr Geld pro Kopf für die medizinische Versorgung ausgeben als nahezu jedes andere Land auf der Welt (und einen größeren Anteil vom BIP), sind sie bei der Lebenserwartung alles andere als Weltspitze. Frankreich etwa gibt weniger als 12% seines BIP für die medizinische Versorgung aus, verglichen mit 17% in den USA. Trotzdem haben Amerikaner eine Lebenserwartung, die drei volle Jahre unter der der Franzosen liegt...

... der Rest des Kommentars findet sich >>> hier.

6. Dezember 2015

Philanthropie: Schaulaufen der Multimillionäre und Grosskonzerne

Die jüngste Ankündigung des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg, 99% seines Vermögens in eine gemeinnützige Stiftung einzubringen, und auch das Schaulaufen deutscher Superreicher und Großkonzerne gestern Abend bei „Ein Herz für Kinder“ im ZDF werfen ein bezeichnendes Licht auf den weltweiten Philanthropie-Boom. Da passt es gut, dass die entwicklungspolitische Rolle philanthropischer Stiftungen jetzt von einer Studie, die Brot für die Welt, das Global Policy Forum und Misereor veröffentlicht haben, kritisch unter die Lupe genommen wird (>>> Philantropic Power and Development: Who shapes the agenda?).


Multimilliardäre und ihre Stiftungen, allen voran die Bill & Melinda Gates-Stiftung, spielen eine wachsende Rolle bei der Finanzierung von Entwicklungsprogrammen. Sie haben aber auch massiven Einfluss auf die Formulierung entwicklungspolitischer Strategien und ihre Umsetzung auf nationaler Ebene. Jens Martens, Geschäftsführer des Global Policy Forums und Ko-Autor der Studie, zufolge ist „der Boom privater Stiftungen (…) die Folge einer Steuerpolitik, die Reiche begünstigt und die Anhäufung privaten Vermögens von Multimilliardären wie Mark Zuckerberg ermöglicht. Die Kehrseite der Medaille ist eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und zunehmende sozio-ökonomische Ungleichheiten. Statt aber Milliardäre allein dafür zu verurteilen, dass sie einen Teil ihres Vermögens philanthropischen Zwecken stiften, müssen vielmehr jene Politiker kritisiert werden, die die Anhäufung von Privatvermögen erst ermöglicht und damit massive Einbußen öffentlicher Einnahmen in Kauf genommen haben – und weiterhin nehmen.“

Philanthropische Stiftungen beeinflussen in besonderem Maße den Diskurs, die Forschung und die Politik im Bereich landwirtschaftlicher Entwicklung und globaler Ernährungssicherheit, was die Studie schwerpunktmäßig untersucht. „Vor allem die Rockefeller- und die Gates-Stiftung“, so Bernd Bornhorst, Leiter der Abteilung Politik und Globale Zukunftsfragen bei Misereor, „sehen Hunger und Unterernährung in Entwicklungsländern in erster Linie durch einen Mangel an Technologie, Wissen und Marktzugang verursacht. Sie betrachten technologische Innovationen, dabei explizit auch die Gentechnik, sowie eine enge Zusammenarbeit mit Lebensmittel- und Agrarkonzernen als Lösung zur Überwindung des weltweiten Hungers. Dabei ignorieren sie aber die Rechte der einheimischen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und tasten die strukturellen Ursachen von Hunger und Mangelernährung kaum an.“

Angesichts der Erfahrungen in den Bereichen Gesundheit und Landwirtschaft plädiert die Studie für eine gründliche Prüfung der Risiken und Nebenwirkungen der Aktivitäten philanthropischer Stiftungen. Sie ruft Regierungen und zivilgesellschaftliche Organisationen aus aktuellem Anlass dazu auf, den Einfluss großer philanthropischer Stiftungen kritischer zu beobachten und den möglichen Risiken und Nebenwirkungen mehr Beachtung zu schenken. Dies gilt insbesondere für den Einfluss mancher Stiftungen und der von ihnen propagierten Wirtschaftslogik auf den politischen Diskurs, die Fragmentierung von Global Governance und die Schwächung der Vereinten Nationen, die Abhängigkeit der Finanzierung öffentlicher Programme vom guten Willen von Milliardären wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg, sowie den Mangel an Mechanismen für Monitoring- und Rechenschaftspflicht.

27. November 2015

Vor Paris: Klimaschutz - Ein Business-Plan?

Während sich die USA und auch die EU auf ein klares Nein zur Aufnahme des Themas „Loss and damage“ in das neue Klimaabkommen festgelegt haben, kommt die Weltbank mit einem „Business Plan“ nach Paris, der Afrika widerstandsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels machen soll (>>>Accelerating Climate-Resilient and Low-Carbon Development: The Africa Climate Business Plan). Zwischen beiden Positionen gibt es einen Zusammenhang, und beides zeigt erneut, dass der Klimagipfel (COP21), der am Montag in Paris beginnt, unter keinem guten Stern steht (>>> Die Tabus der internationalen Klimaverhandlungen).


Das Nein zu „Loss and damage“, also zu Kompensationszahlungen an den Süden, vor allem an die ärmsten Länder, für die aus dem Klimawandel resultierenden Verluste und Schäden, zeigt, dass sich der Norden nach wie vor mit Macht gegen einen wirklichen Nord-Süd-Ausgleich im Rahmen eines Klimadeals sperrt. Dass die Weltbank mit einem „Business Plan“, in dessen Mittelpunkt der Stärkung der Resilienz steht, daher kommt, verweist darauf, wie wenig von dem Gerede zu halten ist, man wolle wirklich ein „ambitioniertes“ Klimaabkommen erreichen. Statt den Klimawandel zu stoppen, verortet sich der Weltbank-Plan im Kontext der Bemühungen zur Unterstützung des Südens bei der Anpassung an den Klimawandel. Dass er dies unter dem Motto der Stärkung der Widerstandsfähigkeit tut, ist ein weiteres Indiz dafür, wie das Resilienz-Konzept nach und nach an die Stelle des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung tritt. (Dies hat in einem sehr lesenswerten Aufsatz kürzlich Thomas Gebauer in den blättern des iz3w als jüngsten Trend der Entwicklungspolitik dargestellt.)

Tatsächlich kommt in dem neuen „Business Plan“ der Weltbank der Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ kaum vor, dafür dominiert der Resilienz-Begriff. Der Plan identifiziert rund ein Dutzend prioritäre Bereiche in drei Clustern, in denen die Resilienz der afrikanischen Länder gegen den Klimawandel gestärkt, ausgebaut und vermittelt werden soll. Dabei hält die Bank bereits eine Erwärmung der Erdatmosphäre gegenüber dem vorindustriellen Niveau von 1,5-1,75° C für unvermeidbar, zieht aber auch eine Erwärmung von 2 oder gar 4°C als möglich in Erwägung. Je nachdem, welches Szenario eintritt, müsse für den „Business Plan“ 16 Mrd., 20-50 Mrd. oder sogar 100 Mrd. Dollar bis zur Mitte des Jahrhunderts mobilisiert werden.

Nun wäre gegen die Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegen die in der Tat drastischen Folgen des Klimawandels in Subsahara-Afrika (vom Verlust von Ackerland, rückläufiger Nahrungsmittelproduktion, zunehmender Hunger, Wetterextreme wie Hitze und Dürren etc.) nichts einzuwenden, spiegelte sich in solchen Plänen nicht auch das Abrücken von einem ernsthaften Kampf gegen den Klimawandel zugunsten des bloßen Überlebenskampfs angesichts nicht mehr abzukehrender Umweltveränderungen. Die Weltbank wäre nicht die Weltbank, würde sie ihren neuen Plan, der vornehmlich internationales Geld in die Töpfe ihres eigenen institutionellen Netzwerks lenken soll, nicht auch als Beitrag zur Erreichung ihrer eigenen Unternehmensziele rühmen, nach denen der Anteil der Klimafinanzierungen am eigenen Portfolio bis zum Jahr 2020 um ein Drittel steigen soll – und damit natürlich auch das politische Gewicht der Weltbank im Geberkonzert überhaupt.

24. November 2015

Das Risiko neuer Schuldenkrisen

Externe Verschuldung in Mrd. Dollar, 1980-2013
Die Risiken einer neuen Schuldenkrise stehen im Mittelpunkt der derzeit in Genf tagenden 10. Schuldenmanagement-Konferenz der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD).  Die Organisatoren hätten sich kaum einen besseren Zeitpunkt aussuchen können, ist ein wachsender globaler Schuldenberg doch ein entscheidender Faktor der hohen Fragilität der Weltwirtschaft. Während Woche für Woche neue alarmierende Meldungen über nicht-nachhaltige Verschuldungsniveaus in Schwellen- und Entwicklungsländern aufhorchen lassen, hat die globale Gesamtverschuldung inzwischen (2014) 199 Billionen Dollar erreicht (gegenüber 21 Mrd. Dollar 1984 zur Zeit der ersten Schuldenkrise).


Zwar haben sich die externen Verschuldungsindikatoren in vielen armen Ländern während des ersten Jahrzehnts nach dem Jahr 2000 verbessert, doch werden die inzwischen wieder steigenden externen Schulden in einer Zeit fallender Rohstoffpreise und steigender Zinssätze, von Währungsabwertungen und einer Verlangsamung des globalen Wachstums schwerer zu bedienen sein. Anlass zu besonderer Sorge sind stark verschuldete Privatunternehmen in den Emerging Markets, deren Niveau insgesamt über 18 Billionen Dollar erreicht hat, wobei rund 2 Billionen in ausländischer Währung anfallen.

Wie andere Beobachter geht UNCTAD deshalb davon aus, dass das Risiko neuer öffentlicher Schuldenkrisen durchaus real ist: Denn Finanzkrisen, die ihren Ursprung im privaten Sektor haben, münden gewöhnlich in eine öffentliche Überschuldung und eine längere Periode wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Schätzungen variieren zwar, doch eine kürzliche Studie des IWF stellt fest, dass eine solche Krise 5-10% des Wachstums vernichtet und der Output nach acht Jahren immer noch um 10% unter dem normalen Trendwert liegt.

Neben der Gefahrenbewertung spielt auf der Konferenz das Problem eine große Rolle, dass es bislang keinen umfassenden Mechanismus für den Umgang mit souveränen Schuldenkrisen gibt. UNCTAD spielt hier eine besondere Rolle aufgrund ihrer Arbeit an einem neuen internationalen Insolvenzmechanismus für Staaten und an besseren vertraglichen Ansätzen zur Refinanzierung von Schulden. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang die Hauptrede über eine „neue internationale Architektur des Schuldenmanagements“, die der irische Präsident Michael Higgins gestern zur Eröffnung hielt. „Die Schuldenfrage ist viel zu wichtig“, so Higgins, „als dass man sie der Weltbank oder dem IWF überlassen könnte. Das Management der Schulden heute und in der Zukunft geht uns alle an…“ – Wir können uns in der Tat nicht erlauben, dass das erneut verschärfte Schuldenproblem den mit der Agenda 2030 angestrebten Neuanfang der internationalen Entwicklungspolitik durchkreuzt.

23. November 2015

Terrorismus - Die Verantwortung des Westens

Jeffrey D. Sachs, Leiter des Earth Institute an der Colombia University und Sonderberater des UN-Generalsekretärs, ist immer für eine Überraschung gut. Vom Verfechter einer rigorosen Privatisierungspolitik nach dem Ende der Sowjetunion wurde er zum engagierten Verfechter nachhaltiger Entwicklung. Seit geraumer Zeit lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Verantwortung des Westens im Kontext des internationalen Terrors. Sein jüngster Kommentar: "Terroranschläge auf Zivilisten sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zwar ungeachtet, ob es sich um dabei um den Absturz eines russischen Flugzeugs über der Halbinsel Sinai mit 224 zivilen Todesopfern oder um die entsetzlichen Massaker von Paris handelt, denen 129 unschuldige Menschen zum Opfer fielen oder um die tragischen Bombenanschläge von Ankara, bei denen 102 Friedensaktivisten getötet wurden. Die Täter – in diesem Fall der Islamische Staat (ISIS) – müssen gestoppt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man die Ursprünge dieses skrupellosen Dschihadisten-Netzwerks verstehen. 

So schmerzvoll dieses Eingeständnis auch sein mag, aber der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, sind in hohem Maße für die Schaffung jener Bedingungen verantwortlich, in denen ISIS gedieh. Nur mit einer Änderung der amerikanischen und europäischen Außenpolitik gegenüber den Nahen und Mittleren Osten wird man die Gefahr weiterer Terroranschläge reduzieren können. 
 
Die jüngsten Attacken sollten als „Blowback-Terrorismus“ verstanden werden: als entsetzliche, unbeabsichtigte Folge wiederholter verdeckter und offener Militäraktionen der USA und Europa im gesamten Nahen und Mittleren Osten, in Nordafrika, am Horn von Afrika und in Zentralasien, die darauf abzielten, Regierungen zu stürzen und mit westlichen Interessen kompatible Regime zu installieren. Diese Operationen haben nicht nur die Zielregionen destabilisiert und großes Leid verursacht, sondern auch die Menschen in den USA, der Europäischen Union, Russland und im Nahen Osten einer beträchtlichen Terrorgefahr ausgesetzt...
 

19. November 2015

Von Antalya nach Hangzhou: Welche Zukunft hat die G20?

Es ist nichts Neues, dass die Themen eines Wirtschaftsgipfels durch aktuelle politische Krisen überdeckt werden. Doch noch nie haben politische Erschütterungen die offizielle Agenda so stark in den Hintergrund gedrängt, wie die brutalen Terroranschläge von Paris auf dem G20-Gipfel Anfang dieser Woche. Man mag argumentieren, angesichts der schnöden Wachstumsagenda der türkischen G20-Präsidentschaft sei dies halb so schlimm. Und unter dem Druck der Pariser Ereignisse sei wenigstens der seit der australischen Präsidentschaft im letzten Jahr klaffende Spalt innerhalb der G20 wieder etwas geschlossen worden. Doch dies bliebe unbefriedigend angesichts der Bedeutung eines Gremiums, das sich selbst zum Hauptforum der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit ernannt hat.


Der Gipfel von Antalya stand schon angesichts des kurz zuvor vor dem Hintergrund einer martialischen Drohkulisse errungenen Wahlsiegs der Gastgeber unter einem schlechten Stern. Das Thema „Kampf gegen den Terrorismus“ war zwar – sinnigerweise zusammen mit der Flüchtlingskrise – für das zweite Arbeitsessen der Gipfelteilnehmer eingeplant. Doch die wirtschafts- und finanzpolitische Agenda der G20 war schon seit geraumer Zeit zerfleddert, wie auch das in Antalya verabschiedete „Leader’s Communiqué“ mit seinen dutzenden von Annextexten wieder deutlich machte. In der Substanz gelang es gerade einmal, den von der OECD erarbeiteten Aktionsplan gegen Gewinnverlagerung und Steuervermeidung (BEPS) zu verabschieden – ein Dokument mit einigen Fortschritten, aber vielen weißen Flecken (>>> Bauchlandung statt Systemwechsel). Zur tatkräftigen Bearbeitung der heraufziehenden neuen Schuldenkrise der Schwellenländer reichte die Kraft zu nicht mehr (geschweige denn zu Anstößen in der Klimapolitik, die ohnehin nie zu Kerngeschäft der G20 gehörte).

Dabei ist die private Verschuldung in den Schwellenländern inzwischen höher als in den Industrieländern vor Ausbruch der Finanzkrise. Sieben Billionen Dollar sollen seit Beginn der lockeren Geldpolitik in den USA auf der Suche nach lukrativen Anlagefeldern in die Schwellenländer geflossen sein. Und die „Hebelung“ dieser Summen hat zu Schuldenbergen geführt, deren wirkliche Höhe kaum noch zu messen ist. Da aus privaten Schulden sehr schnell öffentliche Schulden werden können, wenn die Krise eklatiert, wäre die Suche nach adäquaten Regeln für staatliche Insolvenzfälle eine erstrangige Aufgabe für die G20. Doch Fehlanzeige. Ein Lichtblick ergab sich dagegen außerhalb der G20-Strukturen durch das grüne Licht für die Aufnahme des Renminbi in den Währungskorb der Sonderziehungsrechte (SZR) durch den IWF. Dies und der Übergang der G20-Präsidentschaft an China am kommenden 1. Dezember dürften dazu beitragen, die Volksrepublik stärker in die Strukturen der ökonomischen Global Governance einzubeziehen.

Auf genau dieser Linie liegt auch das Programm, das Chinas Staatschef Xi Jinping in Antalya andeutete. Der nächste G20-Gipfel wird am 4./5. September 2016 in Hangzhou in der ostchinesischen Provinz Zheijang stattfinden. Sein Thema „Building an innovative, invigorated, interconnected and inclusive world economy“ (etwa: Aufbau einer innovativen, starken, miteinander verbundenen und inklusiven Weltwirtschaft). Das klingt anders als das blasse „Together for inclusive and robust growth“ der türkischen Präsidentschaft mit dem unglaubwürdigen Zusatz „With the power of women“. Tatsächlich sagte Xi in Antalya, man wolle sich auf neue, innovative Wachstumsmuster, die Verbesserung der finanziellen und wirtschaftlichen Governance, die Förderung von Handel und Investitionen sowie einer inklusiven Entwicklung konzentrieren.

„Wir müssen die Vertretung und die Stimme der Schwellen- und Entwicklungsländer (in der Global Governance) ebenso stärken wie die Fähigkeit der Weltwirtschaft, Risiken zu widerstehen“, so Xi wörtlich, nicht ohne offene Kritik an der Blockade der Reform von IWF und Weltbank durch die USA hinzuzufügen. – Unter einer solchen Agenda, sofern sie konsequent durchbuchstabiert und durchgehalten wird, könnte die G20 sehr wohl zu ihren Kernaufgaben zurückfinden. Hoffen wir also, dass die Zukunft der G20 noch vor uns liegt.

14. November 2015

G20 in Antalya: Der Gipfel; die zehnte

In seiner regulären Umfrage vor dem 10. G20-Gipfel, der am 15./16. November in Antalya/Türkei stattfindet, hat der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB; engl.: ITUC) herausgefunden, dass es für acht von zehn ArbeitnehmerInnen in den G20-Staaten für den Lebensstandard ihrer Familien von großer Bedeutung wäre, wenn sie monatlich 100 Dollar mehr Gehalt bzw. Lohn bekämen – ein Blickpunkt auf die wachsende Ungleichheit in der Welt. Mehr „Inklusivität“ steht zwar auf dem Programm des Gipfels in der Türkei – im Wesentlichen geht es jedoch um Wachstum, schieres Wachstum, nicht einmal „Wachstum mit Umverteilung“, wie ein altes Schlagwort aus der entwicklungspoltischen Debatte lautet.


Seit zwei bis drei Jahren haben sich die G20 jetzt auf die Fahnen geschrieben, das schleppende Wachstum der Weltwirtschaft anzuschieben. Doch seit 2012 korrigiert der IWF seine Wachstumsprognosen nun nach unten, zuletzt – im Oktober 2015 – prognostizierte er gerade nochmal 3,1% weltweit. Dieses soll sich nach einer neuen IWF-Note an den G20-Gipfel allerdings im nächsten Jahr auf 3,6% erhöhen, aber nur, wenn die Risiken der weltwirtschaftlichen Entwicklung erfolgreich gesteuert werden – sonst könnte das Wachstum erneut entgleisen. Diese Risiken sind – der IWF-Note zufolge – die anstehende Zinserhöhung durch die US-Notenbank, der Übergang Chinas zu einem neuen Wachstumsmodell (vom Export zum Binnenkonsum) und der zu Ende gehende Superzyklus hoher Rohstoffpreise.

Eine herausragende Rolle in der Wachstumsagenda der G20 spielt die Förderung der Infrastruktur – das ist gar nicht mal so falsch – doch die Form, in der das geschieht, ist mehr als problematisch. So propagieren die Weltbank und die OECD in Papieren für die G20 vor allem Öffentlich-Private Partnerschaften (PPP) als Königsweg der Infrastrukturförderung. Dabei werden öffentliche Finanzmittel als „Hebel“ eingesetzt, um private Investitionen zu mobilisieren – allerdings mit beträchtlichen Risiken für die öffentliche Hand, wie eine Studie des Eurodad-Netzwerks nachweist: Gehen die Projekte schief, bleibt der Staat meistens auf den Kosten sitzen – bis hin zur Übernahme der privaten Schulden in die öffentlichen Verbindlichkeiten.

Der Aufgabenberg des Antalya-Gipfels geht allerdings weit über die Wachstumsagenda hinaus, wie sich an den geplanten Arbeitsessen der Chefs ablesen lässt: Am ersten Gipfeltag geht es um Entwicklungsfragen und Klimawandel sowie um „Globale Herausforderungen: Terrorismus und Flüchtlingskrise. Am zweiten Tag stehen dann die G20-Kernthemen Finanzregulierung, internationale Steuern, Anti-Korruption und IWF-Reform auf der Tagesordnung sowie eine „Resilienz-Sitzung“, die sich mit Handels- und Energiefragen befassen soll. Eine Mammut-Agenda fürwahr, aber es bleibt abzuwarten, ob es wesentliche Ergebnisse geben wird.

Das wichtigste Gipfelereignis ist vielleicht die Präsentation des chinesischen Präsidenten Xi Jinping zum Abschluss. China wird im Dezember die G20-Präsidentschaft für 2016 übernehmen – eine Perspektive, mit der vielleicht wieder etwas Leben in die Bude kommt, die vor sieben Jahren so hoffnungsvoll eröffnet wurde, aber dann nach und nach den aufbrechenden Interessengegensätzen anheimfiel (>>> W&E-Hintergrund März-April2015: G20 zwischen Geopolitik und Finanzregulierung).

13. November 2015

Staateninsolvenz: Jetzt nur noch das System aufbauen

Gastblog von Joseph Stiglitz und Martin Guzman


Jedes entwickelte Land verfügt über ein Insolvenzrecht, doch es fehlt an einem entsprechenden Rahmenwerk für staatliche Kreditnehmer. Dieses rechtliche Vakuum ist durchaus von Bedeutung, denn es kann eine Volkswirtschaft zum Erliegen bringen, wie derzeit in Griechenland und Puerto Rico zu beobachten ist.

Im September setzten die Vereinten Nationen einen bedeutenden Schritt, um diese Lücke zu füllen und verabschiedeten eine Reihe von Prinzipien zur Restrukturierung von Staatsschulden. Neun Grundsätze – nämlich das Recht des Staates, eine Restrukturierung in Gang zu setzen, staatliche Immunität, Gleichbehandlung von Gläubigern, Restrukturierung durch (Super-) Mehrheitsentscheidung, Transparenz, Unparteilichkeit, Legitimität, Nachhaltigkeit und Verhandlungen in Treu und Glauben  - bilden dabei das Rückgrat wirksamer internationaler Rechtsstaatlichkeit.
 
Die überwältigende Unterstützung für diese Prinzipien – 136 UNO-Mitglieder stimmten dafür und nur sechs (angeführt von den Vereinigten Staaten) dagegen – zeugt von der weltweiten Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit, Schuldenkrisen zügig zu lösen. Der nächste Schritt – nämlich die Ausarbeitung eines internationalen Vertrags über ein globales, für alle Länder verbindliches Insolvenzregime – könnte sich schwieriger gestalten...

... die Fortsetzung des Kommentars findet sich >>> hier.

Migrationsgipfel in Valletta: Tauschhandel mit ungedeckten Schecks

Eindringlich warnten entwicklungspolitische NGOs vor dem Migrationsgipfel von Valletta, die Entwicklungs-zusammenarbeit der EU und ihrer Mitgliedsländer dürfe nicht als Druckmittel für die Kooperation beim Grenzmanagement und der Rückführung von Flüchtlingen und Migranten missbraucht werden. „Es darf keine faulen Deals auf Kosten von Flüchtlingen geben.“ (VENRO) Tatsächlich ist die Übereinkunft, die gestern auf dem EU-Afrika-Gipfel in Villetta/Malta betroffen wurden, genau das: ein fauler Deal. Wie weit er auf Kosten von Flüchtlingen geht, ist zwar noch offen, da auf Drängen der Afrikaner eine Präferenz für „freiwillige Rückkehr“ in die Abschlusserklärung geschrieben wurde. Aber das zugleich verabschiedete Aktionsprogramm folgt genau dem Prinzip „Mehr Finanzhilfe gegen die Rücknahme unerwünschter afrikanischer Flüchtlinge aus Europa“.


Es wird gesagt, die Beschlüsse stellten den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zwischen der EU und der Afrikanischen Union dar. Die Afrikaner wollten im Gegenzug zu ihrer Bereitschaft, Flüchtlinge zurückzunehmen, mehr legale Zuwanderungsmöglichkeiten für Afrikaner nach Europa. Letztlich bleibt es aber jedem EU-Mitgliedsland selbst überlassen, wie viel legale Zuwanderung es gestattet. Der beschlossene „Treuhandfonds“ mit 1,8 Mrd. € aus dem EU-Haushalt kommt zwar zusätzlich zu den bisherigen 20 Mrd. € Entwicklungshilfe der EU für Afrika, ist aber klar als Instrument des Migrationsmanagements konzipiert. Er soll durch Beiträge der Mitgliedsländer auf das Doppelt erhöht werden, davon aber sind bislang lediglich gut 70 Mio. € zugesagt.

Dabei soll der Fonds einen schier unübersehbaren Aufgabenkatalog bedienen: neue Beschäftigung für junge Männer und Frauen schaffen, Klein- und Kleinstunternehmen fördern, die Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung verbessern, die „Migrationssteuerung“ verbessern und auch freiwillige oder abgeschobene Rückkehrer aus Europa wieder eingliedern, und das in 23 Ländern, von Burkina Faso bis Tschad, von Äthiopien bis Uganda, von Ägypten bis Tunesien. Mit Ursachenbekämpfung hat dies allenfalls am Rande zu tun, wohl aber mit dem Versuch, Flüchtlinge von Europa möglichst fernzuhalten. Am Rande sei bemerkt: In der Türkei, über die nach dem Afrika-Gipfel beraten wurde, will sich die EU die Flüchtlingsabwehr rund 3 Mrd. € kosten lassen (vornehmlich zur schärferen Überwachung der Grenzen und zum Bau von Flüchtlingslagern).

EU-Parlamentspräsident Schulz gab derweil zum Besten, die EU-Entwicklungshilfe sei selbstverständlich an „Good Governance“ in den Zielländern geknüpft. Unter den Kandidaten des neuen Treuhandfonds sind aber u.a. folgende Länder mit drastischen Menschenrechtsverletzungen: Eritrea, Sudan, Uganda und Libyen. Der Präsident des Niger, Mahamadou Isoufou, kritisierte in Valletta hingegen nicht nur die mangelhafte Ausstattung des Fonds, sondern das System der Entwicklungshilfe überhaupt: „Was wir wollen, ist nicht nur öffentliche Entwicklungshilfe in dieser Form, sondern Reform der Global Governance.“ Vor allem der Welthandel müsse fairer werden. Hier hat die EU in der Tat auch nach Valletta noch viel zu tun.

30. Oktober 2015

Smartville: Eisiger Wind der Globalisierung

Die Phase der "Hyperglobalisierung“ (s. vorstehender Eintrag) mag der Vergangenheit angehören; doch der Wind der „gewöhnlichen Globalisierung“ weht noch. Ein vielsagendes Beispiel dafür lässt sich derzeit in der Smart-Produktionsstätte von Daimler Benz im lothringischen Hambach beobachten. Vor nunmehr rund 20 Jahren siedelte der Konzern die Produktion des Smart dort an – nicht ohne zahlreiche Standortvorteile in Form infrastruktureller Vorleistungen und Steuerbefreiungen einzuheimsen. Nicht zuletzt deshalb arbeitet das Werk bis heute profitabel, auch wenn es der vielfach als zu restriktiv verteufelten französischen Arbeitsgesetzgebung, darunter der 35-Stunden-Woche, unterliegt. Doch jetzt soll „Smartville“ zum Hebel des sozialen Rollbacks gemacht werden, das von der Regierung des sozialistischen Präsidenten Hollande in Szene gesetzt wird.

Im Zentrum steht der Versuch, die unter dem früheren sozialistischen Präsidenten Lionel Jospin 1998 eingeführte 35-Stunden-Woche wieder abzuschaffen, um sich stärker dem „deutschen Modell“ anzunähern. Die Geschäftsleitung hat dazu den „Vorschlag“ lanciert, die Belegschaft solle 4 Stunden pro Woche länger arbeiten, dabei aber nur für 2 Stunden entlohnt werden. Die Unternehmensführung wirbt mit der Behauptung, die Mehrheit der Beschäftigten habe sich für die Annahme des „Vorschlags“ ausgesprochen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit: Lediglich die Techniker und Angehörigen des Managements sind dafür; die Montagearbeiter sprachen sich mehrheitlich dagegen aus. Parallel dazu ließ die Unternehmensspitze das Gerücht durchsickern, die Smart-Produktion könne jederzeit auch nach Slowenien verlagert werden – zu erheblich günstigeren Kosten, versteht sich.

Da die so oft bemühte Konkurrenzfähigkeit im Falle von Smartville außer Frage steht und selbst der Chef der Personalabteilung nicht daran glaubt, bei 4 Stunden Mehrarbeit konkurrenzfähiger zu werden, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Es geht ums Prinzipielle, nämlich die 35-Stunden-Woche. Das sehen auch die beiden großen Gewerkschaften, CFDT und CGT, die mit der Sache zu tun haben, so. Sie haben jetzt gegen das Vorhaben der Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Weigerung, die zusätzlich geleistete Arbeit voll zu bezahlen, erst einmal ihr Veto eingelegt. Das ist nach französischem Arbeitsrecht möglich, beantwortet jedoch noch nicht die Frage, wie lange sie dem eisigen Wind der Globalisierung noch standhalten können. Die Regierung und die französischen Arbeitgeberverbände scheinen entschlossen, die geltenden Branchentarifverträge zugunsten betrieblicher Abmachungen mehr und mehr zu durchlöchern. Der Wind der Globalisierung und der Druck des „deutschen Modells“ helfen ihnen dabei.

12. Oktober 2015

TTIP-Proteste: Barrieren gegen neue Hyperglobalisierung

So mancher rieb sich am Wochenende verwundert die Augen, als die Zahlen von der Stopp-TTIP-Demonstration in Berlin bekannt wurden. Die hastig mittels Großanzeigen des Bundeswirtschaftsministers gestartete Gegenpropaganda hatte nicht verfangen. Zwischen 150.000 und 250.000 Menschen gingen zu einem lauten Nein gegen die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen den USA und der EU auf die Straße. Eine besonders eigenartige Erklärung hielt da heute Morgen der Kommentator der FAZ bereit: „Die besseren Argumente gibt es für TTIP, auf der Straße aber ist das Nein leichter zu vermitteln.“ (Carsten Knop) Soll wohl heißen: Die auf der Straße sind taub für Argumente oder haben gar keine. Nichts freilich könnte mehr danebenliegen. Eines der Argumente gegen TTIP hatte Herbert Prantl noch am Freitag in der Süddeutschen formuliert: „Angesichts der Flüchtlingskrise ist es auch notwendig, den Freihandel nicht länger so zu betreiben, dass er die Wirtschaft der Entwicklungsländer zerstört und die Menschen in die Migration treibt.“

Das Thema Handel bzw. Welthandel bewegt die Menschen derzeit so stark wie noch nie – nicht nur wegen der vielfältigen Auswirkungen, die von Megaprojekten wie TTIP (oder auch vom pazifischen Pendant TPPA) befürchtet werden. Es herrscht der Eindruck, dass über den Umweg des Handels so ziemlich alle Errungenschaften, von sozialen und ökologischen Standards, von einer gesunden Ernährungsweise über den Schutz der Kultur, von den Regulierungskapazitäten der Staaten bis zu Grundlagen der Demokratie, ausgehebelt werden sollen. Dabei entwickelt sich der Welthandel derzeit real in recht unspektakulären Bahnen. Nach der letzten Prognose der Welthandelsorganisation (WTO) wird der globale Güterhandel im laufenden Jahr nur um 2,8% wachsen, während der IWF ein Output-Wachstum der Weltwirtschaft von 3,1% erwartet. Dies ist jetzt bereits das vierte Jahr, in dem der Welthandel nur genauso stark oder sogar weniger stark wächst als die Weltwirtschaft insgesamt. Welch ein Unterschied zu dem Wachstumsmuster vor der globalen Finanzkrise von 2008, als der Handel weltweit regelmäßig doppelt so stark oder stärker anstieg als die reale Produktion!

Nicht wenige interpretieren das neue Muster so, dass die Globalisierung ihren Zenit überschritten hat bzw. die Ära der „Hyperglobalisierung“ beendet ist. Auch die Stockungen in den  WTO-Verhandlungen und jetzt die wachenden Proteste gegen TTIP können so interpretiert werden. Ein Hauptziel von TTIP und seiner Schwester der Transpazifischen Partnerschaft (TPPA) wäre es dann, die gegen eine neue Hyperglobalisierung gewachsenen Barrieren wieder einzureißen. Dass auf diesem Weg die Wiederbelebung des Handels gelingt, darf bezweifelt werden, schon deshalb, weil die Expansion des Handels gewöhnlich der Steigerung des Outputs folgt, und nicht umgekehrt. 

Dass sich eine wachsende internationale Öffentlichkeit gegen eine neue Ära der Hyperglobalisierung stemmt, verbessert die Chancen dafür, zunächst einmal über die Gestaltung des Handels zu reden, bevor ihm freier Lauf gelassen wird. Diese Regeln sollten freilich von allen in einem multilateralen Prozess ausgehandelt werden, nicht von exklusiven und exkludierenden Verhandlungsklubs. Die Verhandlungen über TPPA sind zwar inzwischen abgeschlossen. Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte, selbst wenn seine Befürworter diesen Abschluss wie einen Triumpf gegenüber den Ausgeschlossenen gefeiert haben: „Wir können nicht Länder wie China die Regeln der globalen Ökonomie schreiben lassen. Wir sollten diese Regeln selbst schreiben“, begründet US-Präsident Obama das TPPA-Projekt. Auch die TTIP-Kritiker sollte dies aufhorchen lassen.

9. Oktober 2015

IWF und Weltbank, die Krisen und das Steuerungsdefizit der Weltwirtschaft

Zum Auftakt der Jahrestagung von IWF und Weltbank in Lima/Peru habe ich Martin Ling ein Interview gegeben, das heute in der Tageszeitung Neues Deutschland erschienen ist. Es hat folgenden Wortlaut:


Der Internationale Währungsfonds sieht für 2015 eine leichte Erholung bei den entwickelten Volkswirtschaften im Vergleich zum Vorjahr und eine Verlangsamung bei den Schwellenländern. Für beide Ländergruppen sieht der IWF eine wirtschaftliche Erholung im Jahr 2016. Das hört sich unspektakulär an. Befindet sich der globale Kapitalismus derzeit in vergleichsweise ruhigen Gewässern?
Das wäre eine ziemlich beruhigende Diagnose für ein kapitalismuskritisches Blatt. Ironischerweise sind aber die offiziellen Warnungen, die jetzt vor und auf der Jahrestagung von IWF und Weltbank geäußert werden, wesentlich dramatischer. Der IWF spricht in seinem aktuellen World Economic Outlook beispielsweise davon, dass das globale Wachstum das niedrigste ist, das wir in den vergangenen Jahren seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 erlebt haben. Die Schwellenländer befinden sich jetzt im fünften Jahr in Folge in einer Situation rückläufiger wirtschaftlicher Dynamik. Andere gehen sogar noch weiter, wie der ehemalige Finanzminister der USA, Larry Summers. Er hält die Gefahrenmomente über der Weltwirtschaft für so ernst wie noch nie seit der Lehman-Pleite 2008.

Was sind denn die zentralen Ursachen für die Wachstumsschwäche bei den Schwellenländern?
Es gibt vielfältige Faktoren, die für die Schwierigkeiten der Schwellenländer derzeitig verantwortlich sind. Man kann sie keineswegs alle über einen Leisten schlagen. Aber ein wichtiges Element ist zweifellos der Einbruch bei den Rohstoffpreisen, der in eine längere Phase niedrigerer Preise münden könnte. Das trifft die rohstoffabhängigen Länder naturgemäß schwer, andere aber, wie Indien beispielsweise, profitieren von dieser Situation, weil sie rohstoffimportabhängig sind. Hinzu kommen die Unsicherheiten, die allein durch die Ankündigung einer Wende in der US-Zinspolitik geschaffen wurden. Allein die Aussicht auf steigende Zinsen ließ Kapital abfließen und dämpfte das wirtschaftliche Wachstum bei den Schwellenländern. Das war sozusagen der Auftakt zu einer Umkehr der Kapitalströme. Die Schwellenländer werden jetzt in diesem Jahr wahrscheinlich das erste Mal seit 30 Jahren einen Nettokapitalabfluss erleben. Der Wind hat sich gedreht: Lange waren die Schwellenländer Ziel für ausländisches Kapital, nun werden sie zu Ausgangspunkten neuer Krisen und zu Ländern, aus denen das ausländische Kapital flieht und wieder abfließt.

Wie steht es um interne Faktoren, die zur Schwäche der Schwellenländer beitragen?
Die gibt es selbstverständlich auch, Korruptionsskandale zum Beispiel. Bei einigen Ländern wie Brasilien und Russland gibt es politische Versäumnisse. Wobei ich als wichtigstes Versäumnis ansehen würde, dass sie die Zeit der hohen Exporteinnahmen aus Rohstoffverkäufen ungenutzt verstreichen ließen, statt die einheimische Wirtschaft zu diversifizieren und damit unabhängiger gegenüber externen Schocks zu machen.

Der neue Chefökonom des IWF, Maurice Obstfeld, sieht das größte Destabilisierungspotenzial für die Weltwirtschaft neben der erwähnten Normalisierung in der US-Geldpolitik mit höheren Zinsen im Umbau der chinesischen Volkswirtschaft weg vom Export, hin zu einer stärkeren Binnenorientierung und Dienstleistungswirtschaft. Teilen Sie diese Einschätzung?
In Bezug auf China keinesfalls. Chinas Kurs, sich stärker sich an Binnenfaktoren zu orientieren, ist wirtschaftspolitisch auf alle Fälle sinnvoll. Und es ist auch klar, dass die Zinspolitik nicht auf diesem extrem niedrigen Niveau bleiben kann, wie in den vergangenen Jahren. Dass von diesen gesunden Entwicklungen Destabilisierungspotenzial ausgeht, liegt daran, dass es kein System der Global Governance gibt, keine kooperative, multilaterale Gestaltung der Globalisierung. Damit könnten die Effekte, die daraus für andere Länder resultieren, gesteuert und minimiert werden.
Nicht die chinesische Wirtschaftspolitik oder das abnehmende Wachstum in China ist eine Hauptgefahrenquelle für die Weltwirtschaft, sondern dass wir viele rohstoffabhängige Ökonomien haben mit hohen Auslandsschulden, die in Dollar denominiert sind. Jeder Zinsanstieg in den USA wird die Schuldenlast erhöhen. In Kombination mit niedrigeren Exporteinnahmen aufgrund des Rohstoffpreisverfalls kann das zu fatalen Folgen führen und eine neue Welle von Schuldenkrisen in Entwicklungs- und Schwellenländern auslösen. Der aktuelle Global Financial Stability-Report des IWF simuliert eine solche Situation und kommt zu dem Ergebnis, dass mehrere parallele Schuldenkrisen im Süden sehr wohl zu einer neuen globalen Finanzkrise mit einer anschließenden neuen globalen Rezession eskalieren könnten.

Es ist inzwischen beinahe fünf Jahre her, dass der IWF-Exekutivrat eine weitreichende Reform seiner Quoten- und Leitungsstruktur beschlossen hat. Unter anderem sollte dadurch den Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft Rechnung getragen und den Schwellen- und Entwicklungsländern mehr Mitsprache eingeräumt werden. Bis jetzt ist das durch die Sperrminorität der USA verhindert worden. Gibt es großen Unmut darüber oder gar Sprengstoff für die jetzige Tagung?
Es gibt diesen Unmut. Zur Sprengung der Tagung dürfte er indes nicht reichen. Zudem war es eigentlich auch keine weitreichende, sondern eine bescheidene Reform, die da realisiert werden sollte. Aber da das alles stagniert, greifen die Schwellenländer zu alternativen Instrumenten. In diesen Kontext fällt die Gründung der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) oder die von China initiierte Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) im vergangenen Jahr. Das erhöht selbstverständlich weiter den Druck auf den IWF und auf die Weltbank, bei der im Übrigen ein ähnlicher Reformprozess angestoßen werden soll. Auch dort ist eine weitere Aufstockung der Mitspracherechte für die Schwellenländer im Gespräch. Es ist jedoch eher nicht damit zu rechnen, dass das den konservativen US-Kongress beeindruckt. Noch steht das US-Veto.

* Das Interview im Original findet sich >>> hier.

Neue Krisengefahren: Emerging Hotspots

Noch vor gar nicht langer Zeit wurden sie als die Lokomotiven der Weltkonjunktur gepriesen, inzwischen gelten sie vielfach als mögliche Ausgangspunkte einer neuen globalen Finanzkrise – die Emerging Economies oder Schwellenländer. Von einer Rotation der Risikofaktoren für die Finanzstabilität in die aufstrebenden Ökonomien spricht der neue Global Financial Stability Report (GFSR) des IWF, was umso bedeutender ist, als diese Länder heute eine beträchtlich höhere  Rolle in der Weltwirtschaft spielen als noch vor Jahren, als es gelang, Schuldenkrisen und ihre Effekte auf den Süden des Globus zu begrenzen. Dabei geht es nicht nur um die berühmten BRICS-Staaten, von denen zwei (Brasilien und Russland) bereits in einer offenen Rezession stecken und das größte unter ihnen (China) drastische Wachstumsrückgänge hinnehmen muss. Nach der JP Morgan-Bank zählen derzeit neben Südafrika auch Kolumbien, Mexiko, Indonesien und die Türkei zu den anfälligsten Schwellenländern.


Die Verwundbarkeit resultiert vor allem aus der Tatsache, dass sich seit der globalen Finanzkrise Kreditberge, und d.h. auch Schuldentürme, aufgebaut haben, die viele Emerging Market-Ökonomien anfällig machen für die kommenden Zinserhöhungen in den USA. Rohstoffabhängigkeit, ausstehende Dollar-Schulden, niedrigere Exporteinnahmen und ein Zinsschock stellen ein gefährliches Gemisch dar, zumal der Umkehr der Kapitalströme längst erfolgt ist und für die Emergings Markets in diesem Jahr erstmals seit 1988 ein Nettokapitalabzug von einer Billion Dollar erwartet wird – so schätzt das Institute of International Finance (IIF) in Washington.

Es wäre illusorisch zu glauben, dass sich die Industrieländer von diesen Entwicklungen abkoppeln könnten. „Verwundbarkeiten in Emerging Markets sind wichtig“, sagt José Viñals, der Chefautor des GFSR, „nimmt man ihre Bedeutung für die globale Ökonomie, ebenso wie die Rolle der globalen Märkte für die Übertragung von Schocks auf die Schwellenländer und die fortgeschrittenen Ökonomien. Die jüngsten Finanzmarktunruhen sind eine Demonstration dieser Materialisierung von Risiken.“ Und so könnte ein Szenario für die nächste Etappe schlimmstenfalls so aussehen: Eine neue Welle von Schuldenkrisen im Süden wächst sich zur globalen Finanzkrise aus, die auch den Norden erfasst. Natürlich wäre von einem solchen Szenario auch die Realwirtschaft betroffen. Es könnte nach IWF-Schätzungen den weltweiten Output bis 2017 um 2,4% nach unten drücken. Angesichts der ohnehin schwachen Prognosen wäre dies der Fall einer neuen Großen Rezession. Nur, ob sie so groß wird wie im Anschluss an die letzte globale Finanzkrise – darüber grübeln die Auguren noch.

8. Oktober 2015

Neue Krisengefahren: Wie ernst nehmen IWF und Weltbank die eigenen Warnungen?

Am Vorabend der Jahrestagung von IWF und Weltbank, die in diesem Jahr vom 9.-11. Oktober in Lima/Peru stattfindet, mehren sich die Stimmen, die nach effektiven politischen Maßnahmen gegen die globale Konjunkturverlangsamung rufen. Während der globale Dachverband der Gewerkschaften ITUC die internationalen Finanzinstitutionen auffordert, die von ihnen benannten Risikofaktoren der weltwirtschaftlichen Entwicklung ernst zu nehmen, waren  die weltwirtschaftlichen Gefahren für den ehemaligen US-Finanzminister Lawrence Summers seit der Lehman-Pleite 2008 nie so groß wie heute. Höchste Zeit sei es für den Übergang zu einer expansiven Wirtschaftspolitik.


In seinem neuesten World Economic Outlook hat der IWF seine Wachstumsprognose zum siebten Mal nach unten korrigiert und versichert, mit 3,1% sei das globale Wirtschaftswachstum das niedrigste seit der Großen Rezession 2008/2009. Die Schwellenländer weisen jetzt im fünften Jahr in Folge eine Verlangsamung ihres Wachstums auf. Und das Risiko einer weiteren Verschlechterung, bis hin zu einer globalen Rezession, ist für den Fonds stärker ausgeprägt als noch vor ein paar Monaten. Droht aus der „neuen Mittelmäßigkeit“ (so IWF-Chefin Lagarde vor einem Jahr) eine neue Abwärtsspirale der Weltwirtschaft zu werden?

Zwei große Länder, Brasilien und Russland, sind bereits in der Rezession. Und diese könnte sich – mit dem reduzierten Wachstum in China – schnell auf andere Länder ausweiten, so ITUC-Generalsekretärin Sharan Burrow: „Die Internationalen Finanzinstitutionen müssen die Rezessionsdrohungen ernst nehmen und Investitionen in die soziale und physische Infrastruktur sowie in grüne Technologien fördern, um die globale Arbeitsplatzlücke zu verringern.“ Burrow macht insbesondere den IWF dafür verantwortlich, vor fünf Jahren den Wechsel zur Austerität vollzogen zu haben und damit zur seither anhaltenden Verschlechterung des Wachstums beigetragen zu haben. Selbst das IWF-eigene Unabhängige Evaluierungsbüro bewertete im letzten Jahr die Förderung der fiskalischen Konsolidierung als „verfrüht“. Sie kritisiert ferner, dass der IWF in vielen Ländern mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Deregulierung der Arbeitsmärkte unter Einschluss des Abbaus der tarifvertraglichen Rechte vorangetrieben habe. Summers sekundiert ihr heute: Überfällig seien die Abkehr von der Rhetorik der Strukturreformen und neue fiskalische Stimulierungsmaßnahmen.