19. Dezember 2011

WTO-Ministerial: Langweilig trotz tiefer Differenzen

Die 8. Ministertagung der WTO Ende letzter Woche in Genf ging ohne die sonst üblichen Spannungen und Auseinandersetzungen über die Bühne. Das hängt damit zusammen, dass diesmal von vorneherein auf die Aushandlung einer Abschlusserklärung verzichtet wurde (>>> Ein Begräbnis dritter Klasse). Die Veranstaltung war so unspektakulär, dass selbst NGOs – die sonst voller Argwohn nach Genf blickten – begannen, den „drohenden Bedeutungsverlust der Welthandelsorganisation“ zu beklagen. Doch hinter der entspannten Atmosphäre verbergen sich nach wie vor tiefe Gegensätze, wie Martin Khor vom Konferenzort berichtet:

„Alle bekunden immer noch ihr Bekenntnis zum Abschluss der Doha-Runde. Während die meisten sie auf der Basis der Texte zu landwirtschaftlichen und industriellen Gütern vom Dezember 2008 abschließen möchten, wollen die USA, dass die großen Entwicklungsländer ihre Märkte viel stärker öffnen, was diese nicht fair finden.

Die meisten Industrieländer haben ein neues Herangehen an die Doha-Runde vorgeschlagen, bei dem Verhandlungen auf einer plurilateralen Basis (die nur die willigen Mitglieder einbezieht) geführt werden sollen. Aber dies wurde von rund 100 Entwicklungsländern förmlich zurückgewiesen, die in einem Statement (>>> The Friends of Development Declaration) zum Ausdruck brachten, dass dies gegen die Prinzipien des Multilateralismus und der Inklusion verstoßen würde.

Ein anderer Vorschlag läuft auf eine „Early harvest“ („frühe Ernte“) hinaus, anstatt auf eine Übereinkunft in allen Fragen zu warten. Obwohl viele Länder dafür offen sind, besteht keine Übereinstimmung darüber, was denn „früh geerntet“ werden soll. Vor ein paar Monaten wurde schon die bloße Ankündigung, eine early harvest auf dem Ministrial anzukündigen, abgelehnt.

Fast alle Mitglieder stimmten darin überein, dass es ein „Paket“ für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sein sollte, so dass Doha wenigstens für die ärmsten Mitglieder Ergebnisse liefern würde. Doch zwei Kernpunkte (zollfreier Marktzugang für LDC-Produkte und der Abbau der Baumwollsubventionen) waren für die USA nicht akzeptabel.

Nächstes Jahr, wenn die Doha-Verhandlungen wieder aufgenommen werden, wollen die Industrieländer einen Vertrag über Handelserleichterungen als early harvest durchsetzen. Doch die meisten Entwicklungsländer bestehen darauf, dass jegliche „frühe Ernte“ die entwicklungspolitischen Fragen beinhalten solle, einschließlich einem LDC-Paket, einer erweiterten besonderen und differenzierten Behandlung, eine Lösung der Umsetzungsprobleme der bisherigen WTO-Abkommen und einer Reduzierung der Agrarsubventionen.

Eine ebenso tiefe Spaltung gibt es in Bezug auf Fragen, die kein Bestandteil der Doha-Agenda (mehr) sind. Die Industrieländer wollen Diskussionen über neue Issues beginnen, die möglicherweise zu neuen Regeln führen. Dazu gehören Investitionen und Wettbewerb (die bereits jahrelang diskutiert, dann aber 2004 von der Doha-Agenda genommen wurden), Klimawandel, Energie- und Ernährungssicherheit. Gleichwohl ist die Mehrheit der Entwicklungsländer gegen die Top-down-Einführung neuer Issues. Die Deklaration der Friends of Development betont, dass alle handelsbezogenen Fragen in Übereinstimmung mit den Prozessen und Konsensverfahren in den geeigneten WTO-Einrichtungen diskutiert werden sollten.

Viele glauben, dass die Einführung neuer Issues von den entwicklungspolitischen Komponenten der Doha-Agenda ablenken würde und daher nicht im Interesse der Entwicklungsländer wäre. Stattdessen schlagen die Entwicklungsländer vor, die entwicklungspolitischen Aspekte der WTO voranzubringen, einschließlich der Stärkung des WTO-Ausschusses für Handel und Entwicklung und einer entwicklungspolitischen Überprüfung der WTO-Bestimmungen für besondere und differenzierte Behandlung.

So werden Differenzen und Spannungen wieder auftauchen, wenn die WTO im nächsten Jahr ihre Arbeit wieder aufnimmt.“


Martin Kohr ist Direktor des South Centre in Genf.

17. Dezember 2011

De Schutter an Lamy: Die WTO und die Schlachten der Vergangenheit

Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, hat in einer Replik auf den Offenen Brief von WTO-Generaldirektor Lamy (>>> Lamy vs. De Schutter) dessen Einladung zur Diskussion mit den Mitgliedern der WTO begrüßt, betont jedoch, jede Debatte müsse von korrekten Prämissen ausgehen. „Die Prämisse“, so De Schutter, „muss die Gefahren einer exzessiven Handelsabhängigkeit für die armen Länder anerkennen. Auch müssen wir die Vereinbarkeit der WTO-Regeln und der Doha-Agenda mit der Agenda der Ernährungssicherheit überprüfen. Ohne eine solche grundlegende Überprüfung werden wir weiterhin von einem Nahrungsmittelsystem abhängen, in dem die Ernährung der Defizitregionen auf den effizientesten Produzenten mit den größten economies of scale ruht und in dem die Kluft nur noch größer wird.“

De Schutter weist darauf hin, dass die Nahrungsmittelrechnung der ärmsten Länder (LDCs) zwischen 1992 und 2008 um das fünf- bis sechsfache angestiegen ist. 25% ihres Nahrungsmittelverbrauchs müsse inzwischen importiert werden. Hinzu kämen die chronisch volatilen Preisbewegungen. Allein in diesem Jahr seien die Nahrungsmittelrechnungen der LDCs um ein Drittel nach oben geschnellt. De Schutter: „Leider funktionieren die von Herrn Lamy geforderten offenen Märkte nicht so perfekt wie er gerne denken würde.“ Der gegenwärtig vorherrschende „handelszentrierte Ansatz“ würde daran nichts ändern.

„Langfristig wird den netto-nahrungsmittelimportierenden Ländern nicht dadurch geholfen, dass man sie ernährt, sondern dadurch dass sie in die Lage kommen, sich selbst zu ernähren. Dies ist der Konsens in der Welt nach der globalen Nahrungsmittelpreiskrise, den selbst die G20 anerkannt haben. Es ist enttäuschend, dass die WTO weiterhin die Schlachten der Vergangenheit schlägt“, so De Schutter.

* Die komplette Stellungnahme De Schutters findet sich >>> hier.

16. Dezember 2011

Globale Konjunktur: Vorsorgliche Warnungen am Abgrund

Die Fehlprognosen aus der Zeit vor der globalen Finanzkrise müssen dem IWF und anderen arrivierten internationalen Wirtschaftsinstitutionen noch schwer im Magen liegen. Wie sonst wären die scharfen Warnungen, die sich gelegentlich sogar zum Alarmismus steigern, zu erklären? Die Geschäftsführende Direktorin des IWF, Christine Lagarde, hat die globale Konjunkturlage jetzt sogar mit der Situation am Vorabend der Großen Depression der 30er Jahre verglichen. Schon im Spätsommer hat sie davon gesprochen, dass die Weltwirtschaft in „eine neue, gefährliche Phase“ eingetreten ist. Zwischenzeitlich hat sie der Weltwirtschaft „ein verlorenes Jahrzehnt“ – wie in Lateinamerika in den 80er Jahren – vorausgesagt.

Kein verantwortungsbewusster Ökonom oder Wirtschaftspolitiker nimmt solche Begriffe ohne stichhaltigen Grund in den Mund. Und folglich herrscht seither allgemein erhöhte Alarmstimmung im globalen Wirtschafts- und Finanzsystem. Doch die Alarmierten agieren wie Hausbesitzer in einem brennenden Haus, die darüber diskutieren, welche Vorkehrungen getroffen werden könnten, um künftige Brände zu verhindern. Dabei haben die Möchtegern-Feuerwehrleute – sei es in der G20 oder der EU – noch nicht einmal jene Sicherheitslücken korrekt identifiziert, die zu der aktuellen Krise führten. Denn ursächlich hierfür waren ja nicht die Überschuldung der Regierungen, sondern die Überschuldung, das blasengetriebene Wachstum und andere Exzesse des privaten Sektors.

Im Zentrum der neuen Hintergrund-Ausgabe von W&E (>>> W&E-Hintergrund Januar 2012; s. Abbildung) stehen jedoch nicht die Reformen, die notwendig sind, um die Deregulierungsorgie der letzten Jahrzehnte rückgängig zu machen und den Finanzmärkten einen neuen Ordnungsrahmen zu geben, sondern das aktuelle Feuer selbst, d.h. die konjunkturellen Schieflage. Ich selbst habe die jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen ausgewertet, die die Weltwirtschaft am Abgrund einer neuen Rezession zeigen. Dieter Boris hat sich die jüngsten Studien zur wirtschaftlichen Lage in Lateinamerika angesehen und kommt zu dem Schluss, dass derzeit kein weiteres „verlorenes Jahrzehnt“ droht, da das Überspringen weltweiter Krisen auf Lateinamerika nicht mehr ganz so automatisch erfolgt, wie in früheren Krisenperioden. Keine ganz schlechte Nachricht also inmitten einer düsteren Globalperspektive.

Lamy vs. De Schutter: WTO contra Nahrungssicherheit

Rechtzeitig vor Beginn des derzeit tagenden Ministertreffens der WTO in Genf hat der Generaldirektor der Organisation, Pascal Lamy, auf einen Report des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, reagiert, in dem dieser fordert, die WTO solle das Menschenrecht auf angemessene Ernährung an die Spitze ihrer Agenda setzen (>>> The World Trade Organisation and the Post-Global Food Crisis Agenda). In dem Bericht räumt De Schutter zwar ein, dass die WTO in Bezug auf Ausnahmeregelungen zwar flexibler geworden sei, kritisiert aber, dass ihre Regeln den Entwicklungsländern immer noch zu wenig Spielraum ließen, um Maßnahmen zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit zu ergreifen. Dazu zählen etwa höhere Zölle, zeitweilige Importrestriktionen, staatliche Aufkaufgarantien für Kleinbauern, aktive Vermarktungsbehörden etc.

„Selbst wenn solche Politiken nicht verboten sind,“ so De Schutter, „werden sie (die Entwicklungsländer) durch die Komplexität der (WTO-)Regeln und die Androhung rechtlicher Schritte entmutigt.“ Die derzeitigen Versuche, beispielsweise in Afrika Nahrungsmittelreserven aufzubauen, müssten peinlich genau das Regelwerk der WTO beachten. Dabei sollte es genau umgekehrt sein: Dieses Regelwerk sollte entlang des Menschenrechts auf Nahrung aufgebaut sein und nicht umgekehrt. Doch „die WTO verfolgt weiterhin das altmodische Ziel der Steigerung des Handels um seiner selbst willen, statt mehr Handel nur insoweit zu ermutigen, wie er der Steigerung des menschlichen Wohlergehens dient“.

Das Antwortschreiben des WTO-Direktors an den „dear Professor De Schutter“ liest sich wie eine ausgewogene Mischung aus Zurückweisung und Beschwichtigung. Einerseits erweckt Lamy den Eindruck, die Debatte des Themas in der WTO und anderen etablierten Institutionen sei auf dem besten Weg. Andererseits widerspricht er scharf der These, Länder müssten ihre Abhängigkeit vom internationalen Handel (mit Agrargütern) begrenzen, um das Ziel der Ernährungssicherheit zu erreichen. Einerseits betont auch Lamy, dass die internationale Governance im Sinne von mehr Ernährungssicherheit verbessert werden müsse. Andererseits holt er gegen De Schutter die übliche Protektionismuskeule auf der Tasche und unterstellt ihm die Unterminierung ökonomischer Effizienz und die Verzerrung von Marktstrukturen. Als ob nicht gerade andersherum ein Schuh draus wird: „Wenn die Doha-Runde Fortschritte machen will, dann muss sie alle politischen Zwänge aufheben, die dem Recht auf Nahrung im Wege stehen und Maßnahmen für seine Gewährleistung zulassen, etwa Nahrungsmittellager, die auf die Reduktion der Preisvolatilität und die Sicherung des Zugangs zu adäquaten Nahrungsmitteln auf lokaler Ebene zielen.“ – Leider steht nicht zu erwarten, dass die WTO dazu auf absehbare Zeit einen Beitrag leistet.

13. Dezember 2011

Cannes, Durban, Bruessel, Genf: Endstation Doha-Runde?

Später in dieser Woche findet in Genf das 8. Ministertreffen der WTO statt (15.-17.12). Es wird mit Sicherheit das trostloseste Ereignis in der Kette von Gipfeltreffen der letzten Wochen. Während der G20-Gipfel in Cannes immerhin noch Trippelschritte verzeichnete, wenn er auch den erforderlichen großen Wurf vermissen ließ (>>> Trippelschritte statt großer Wurf), und die Staatschefs der EU in Brüssel einen gewaltigen Sprung in die falsche Richtung machten (>>> Merkozy auf der Titanic: Volldampf voraus!), einigte sich die Klimakonferenz doch noch auf neue Verhandlungen, schob damit die Lösung der Probleme allerdings weit in die Zukunft hinaus (>>> Durban: Gerechtigkeit zurück auf der Agenda?).

Das Genfer WTO-Ministerial hingegen wird höchstwahrscheinlich nicht einmal eine weitere Verhandlungsperspektive aufzeigen können, sondern darüber feilschen, on die jetzt zehnjährige Doha-Runde ein Begräbnis dritter Klasse bekommt oder weiterhin lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden (>>> Doha-Runde: Ein Begräbnis dritter Klasse?). Das einzige, worin die Verhandlungspartner in der WTO derzeit übereinstimmen, ist die Ansicht, dass sich die Doha-Runde in der Sackgasse befindet. Nur als erster offiziell aussprechen, möchte das aus Angst vor dem Schwarzen Peter kaum einer. Deshalb werden sie sich schwer tun, den Patienten für tot zu erklären, so der EU-Handelskommissar Karel De Gucht kürzlich: „Doha wird nicht für tot erklärt werden, weil wir einer der Ärzte sind und nicht bereit dazu sind.“ Fragt sich, was dann die weitere Perspektive sein soll.

Die WTO wird in Genf vielleicht einige Schlagzeilen mittlerer Bedeutung produzieren. So jährt sich die Neuaufnahme Chinas heuer zum zehnten Mal. Zugleich wird mit Russland die letzte größere Wirtschaftsmacht in den Kreis der WTO-Mitglieder aufgenommen. Die Bilanz der Anti-Dumping-Politik der WTO ist nicht einmal so schlecht: Von den Streitschlichtungsverfahren profitierten auch Entwicklungsländer, vor allem größere und wirtschaftlich fortgeschrittenere. Was sich jedoch deutlich in den letzten zehn Jahren gezeigt hat: Die WTO eignet sich nicht (mehr), um dem Süden eine Agenda aufzuzwingen, die dieser nicht will. Das war eigentlich schon in Cancún 2004 klar, als die Punkte Investitionssicherheit, Wettbewerbsrecht und regierungsamtliche Auftragsvergabe von der Tagesordnung gekippt wurden. Übrig blieben die Frage der Agrarsubventionen, der Handel mit Industriegütern und die Dienstleistungen. Auf allen drei Gebieten sind die Verhandlungen blockiert, weil die Industrieländer überall weitreichende Liberalisierungen wollen, die Entwicklungsländer aber auf dem Abbau von Agrarsubventionen und Schutzrechten für ihre jungen Industrien bestehen. In puncto Dienstleistungen kommt es wahrscheinlich zu einer Reihe plurilateraler Abmachungen der Industrieländer untereinander. – Ein Beinbruch ist diese Entwicklung nicht – geben doch inzwischen selbst Weltbank-Vertreter zu, dass die einstmals prophezeiten Wohlfahrtsgewinne aus Liberalisierungsschüben heillos übertrieben waren. Und so wird sich auch deshalb diese Runde auf dem Krankenbett nicht heilen lassen.

7. Dezember 2011

Rating-Agenturen: Jetzt reicht es eigentlich

Jetzt rächt sich, dass die Politiker über die Rating-Agenturen zwar viel geschimpft haben, es aber bislang weder in der G20 noch im nationalen oder regionalen Rahmen vermochten, wirksame Maßnahmen zu ihrer Zerschlagung oder wenigstens zu ihrer strikten Regulierung und Kontrolle zu treffen. Selbst der agile Binnenmarkt-Kommissar der EU, Michel Barnier, wurde von der Europäischen Kommission zurückgepfiffen mit seinem Versuch, den Agenturen das Rating während laufender Rettungsaktionen zu untersagen. Der jüngste Angriff von Standard & Poors auf die Eurozonen-Staaten, einschließlich die Europäische Fazilität für Finanzstabilität (EFSF), hätte so vielleicht unterbunden werden können.

Mit Eingriffen in die Meinungsfreiheit, wie einige Klopffechter der Finanzmärkte sofort einwandten, hätten solche Maßnahmen nichts zu tun. Schließlich stören diese Ratings massiv die wirtschaftlichen Abläufe. Der Präsident der französischen Zentralbank, Christian Noyer, brachte es gestern auf den Punkt: „Die Rating-Agenturen waren einer der Motoren der Krise von 2008“, sagte er. Und: „Man kann die Frage stellen, ob sie diese Rolle nicht erneut spielen.“

Man kann die Frage getrost mit Ja beantworten. Denn selbst wenn einige Politiker in Berlin darauf spekulieren mögen, dass die drohende Herabstufung der Bonität der Kernländer der Eurozone den Druck auf die Durchsetzung des neuen Krisenpakets von Merkozy auf dem bevorstehenden EU-Gipfel verstärkt, so hätte dieser Austeritätspakt vor allem eine Wirkung: Er würde die Spielräume zu aktiver Konjunkturpolitik weiter einengen und die sich abzeichnende Rezession in der Eurozone weiter verstärken. Dies böte den Rating-Agenturen erneut Zündstoff für eine weitere Herabstufung der Bonität. Und so weiter und so fort.

Das ist keine Schwarzmalerei, sondern die exakte Beschreibung des sich selbst verstärkenden Treibens der Agenturen. Wie bei ihrem jüngsten Anschlag auf die Eurozone führen sie beispielsweise die steigenden Zinsaufschläge auf Staatsanleihen oder das steigende Rezessionsrisiko als Grund für die mögliche Absenkung ihrer Bonitätsnoten an – mit der todsicheren Folge, dass die Zinsaufschläge weiter steigen und die Krise sich verschärft, wenn die Absenkung dann wirklich kommt. Die Politiker hätten die Macht, diesem Kalkül einen Strich durch die Rechnung zu machen. Doch ist es leider so, wie die indische VWL-Professorin Jayati Ghosh in der jüngsten Ausgabe von E+Z schreibt: „Anstatt die Finanzwelt endlich zu regulieren, haben die G20 sich als deren Diener erwiesen.“ Es ist nicht zu erwarten, dass der EU-Gipfel morgen und übermorgen ein anderes Urteil zulassen wird.

Klima wandelt Migration

6. Dezember 2011

Busan-Deklaration: Mehr Prinzipien als Konkretes

Gastkommentar von Ska Keller, MdEP

Nach Monterrey, Paris und Accra war Busan in Südkorea der 4. Austragungsort für eine internationale Konferenz mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern. Nachdem in Monterrey Grundsteine gelegt wurden, in Paris die Grundprinzipien erstellt wurden und es in Accra um einen Aktionsplan ging, war das erklärte Ziel von Busan, die großen Schwellenländer mit an den Tisch zu bekommen; allen voran China. Nach vielem Hin und Her, und nachdem sich China mindestens zwei Mal vom Verhandlungstisch verabschiedet hatte, ist das dann auch gelungen.

Allerdings hat diese Inklusion auch ihren Preis: Auf Drängen Chinas wird im 2. Absatz festgehalten, dass die Verpflichtungen und Ziele, die mit Busan entstehen, für Länder des Südens, also auch für Schwellenländer, freiwillig sind. Überhaupt steht in dem Abschlussdokument auf 12 Seiten wenig Konkretes. Es geht mehr um Prinzipien und Grundsätze. Details und konkrete Indikatoren, mit denen Fortschritte gemessen werden können, sollen bis Juni 2012 erarbeitet werden. Für die Umsetzung der Aufgaben haben die Staats- und RegierungschefInnen gleich eine neue globale Struktur geschaffen.

Die Zersplitterung der internationalen Organisationen wurde schon in den Eröffnungsreden kritisiert - aber anstatt eine vorhandene Struktur zu nutzen, soll eine "Globale Partnerschaft für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit" aufgebaut werden. In deren Rahmen soll die Rechenschaft über den erreichten Fortschritt erfolgen. Die OECD-Arbeitsgruppe, die bisher dafür zuständig war, das Thema zwischen den Konferenzen am Leben zu erhalten, wird aufgelöst.

Insgesamt gibt es einige positive Elemente im Schlussdokument. Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung wird ebenso angemahnt wie die Einhaltung der Pariser Prinzipien, Eigenverantwortung, Harmonisierung, Partnerausrichtung, Ergebnisorientierung sowie gegenseitige Rechenschaftspflicht. Auch wird die Einhaltung des 0,7%-Ziels angemahnt. Ebenfalls sehr positiv ist ein Absatz, der erst in letzter Minute noch in den Text hinein verhandelt wurde und der die Staaten auffordert, NGOs bei ihrer Arbeit nicht zu behindern, sondern im Gegenteil zu fördern.

Ganz oben auf der Negativ-Liste steht der Fokus auf Wachstum und die Privatwirtschaft. Klar braucht man Wachstum, um mehr Menschen aus der Armut zu holen, aber Wachstum ist eben ein Werkzeug und nicht das Ziel. Zudem hilft nicht jede Art von Wachstum: Wenn nur die Reichen reicher werden, trägt das zwar zum Bruttosozialprodukt bei, aber eben nicht zur Armutsbekämpfung. Das Abschlussdokument fordert zudem die Staaten auf, privatwirtschaftliche Akteure an der Erarbeitung und Umsetzung von Entwicklungsstrategien zu beteiligen. Was auf lokaler Ebene durchaus Sinn machen kann, wird extrem gefährlich, wenn, wie bisher, bei der Ausgestaltung zum Beispiel von Freihandelsabkommen interessierte Wirtschaftsleute zu Rate gezogen werden, Zivilgesellschaft, Parlamente und Bevölkerung aber im Dunkeln bleiben. – In jedem Fall wird der Erfolg der Busan-Erklärung davon abhängen, wie wirksam die Beschlüsse umgesetzt werden – und dafür braucht es in jedem Fall die Beteiligung der Parlamente und zivilgesellschaftlicher Organisationen.

2. Dezember 2011

Wird aus dem Green Climate Fund ein Greedy Corporate Fund?

In dieser Woche haben 163 zivilgesellschaftliche Organisationen aus 39 Ländern auf der Klimakonferenz in Durban einen Offenen Brief veröffentlicht, der die Versuche der USA, Großbritanniens und Japans verurteilt, den Grünen Klimafonds in einen „Fonds für gierige Konzerne“ („Greedy Corporate Fund“) zu verwandeln. Wörtlich heißt es in dem Brief:

Wir sind besorgt, dass aus dem Grünen Klimafonds ein Greedy Corporate Fund werden, der den Interessen der Konzerne und des Finanzsektors dient, statt Aktivitäten zur Rettung des Planeten und zum Schutz der Armen in den Entwicklungsländern zu finanzieren. Wir haben besondere Bedenken gegen Vorschläge zur Errichtung einer Privatsektorfazilität im Rahmen des Grünen Klimafonds (GCF), die multinationalen Konzernen direkten Zugang zu GCF-Finanzen für Aktivitäten in Entwicklungsländern unter Umgehung von deren Regierungen verschaffen könnte.

Wir glauben, dass die Rolle des Privatsektors im GCF auf nationaler und subnationaler Ebene in Übereinstimmungen mit den Präferenzen und Bedürfnissen der Länder und nicht der Konzernvorgaben entschieden, geregelt und angeregt werden muss. Wir sind daher schärfstens dagegen, dass irgendwelche Ressourcen des Grünen Klimafonds direkt an den Privatsektor fließen, vor allem nicht über die Errichtung einer Privatsektor-Fazilität.

Ein effektiver grüner Klimafonds muss die Menschen in den Entwicklungsländern dabei unterstützen, sowohl im öffentlichen als auch privaten Sektor den Klimawandel zu bekämpfen. Deshalb erwarten wir, dass der GCF zu einer nachhaltigen und vitalen wirtschaftlichen Entwicklung vor Ort beiträgt. Die Aufgabe des GCFs ist es nicht, multilaterale Konzerne oder Finanzinstitutionen zu subventionieren. Dennoch heißt es gegenwärtig im Abschlussbericht des Transitional Committee zur Ausgestaltung des Grünen Klimafonds an die Konferenz der Vertragsstaaten, dass der Fonds genau das tun könnte: „Der Fonds wird eine Privatsektor-Fazilität bekommen, die ihn befähigt, direkt und indirekt Aktivitäten des Privatsektors für die Minderung des Klimawandels und Anpassung auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene zu finanzieren. (Beispielsweise flossen zwischen 2008 und 2010 63% aller Investitionen der International Finance Corporation in Ländern mit niedrigem Einkommen über multinationale Konzerne aus OECD-Ländern.)

Wenige Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern werden attraktiv genug sein, um Privatkapital anzuziehen, da sie nicht ertragreich genug sind. Einige Minderungsprogramme, einschließlich von Anstrengungen zur Erleichterung des Energiezugangs für die Armen, dürften finanziell auch nicht lukrativ sein. Doch es sind Investitionen in diese öffentlichen Güter, auf die sich der GCF konzentrieren muss. Eine Privatsektor-Fazilität könnte stattdessen zur Umlenkung knapper Klimafinanzen weg von Investitionen in öffentliche Güte und hin zur Subventionierung profitabler Bestrebungen des Privatsektors führen.

Desweiteren sollte vermieden werden, den Grünen Klimafonds mit den Kohlenstoffmärkten und anderen riskanten Finanzinstrumenten zu verknüpfen. Beispielsweise wurden die Kohlenstoff-Derivatemärkte von Markt- und Umweltskandalen heimgesucht und haben auch keine Preisstabilität gewährleistet. Vielmehr waren die Kohlenstoffpreise extrem volatil und zuletzt sehr niedrig. Eine Privatsektor-Fazilität würde in Verknüpfung mit diesen Märkten keinen verlässlichen Fluss an Finanzmitteln für Anpassung und Klimaschutzminderung in den Entwicklungsländern bringen. Außerdem müssen nach der UN-Klimakonvention Finanzmittel in Form von Zuschüssen und konzessionären Darlehen zur Verfügung gestellt werden.


* Der Originalwortlaut und die Liste der Unterzeichner können >>> hier eingesehen werden.

1. Dezember 2011

Aid Effectiveness in Busan: Masslos unglaubwuerdig

Ein weiterer Zacken ist aus der Glaubwürdigkeitskrone der westlichen Aid-Effectiveness-Strategie gebrochen. Auf dem 4. Hochrangigen Treffen zur Wirksamkeit der Entwicklungshilfe in Busan/Südkorea warnte US-Außenministerin Clinton die Entwicklungsländer vor „Gebern, die mehr an der Ausbeutung Eurer Ressourcen als an der Ausbildung Eurer Fähigkeiten interessiert sind“. Die Länder des Südens sollten als „smart shoppers“ (kluge Käufer) auftreten, wenn sie Hilfe von China und anderen „neuen Gebern“ annehmen.

Die Einlassung der US-Außenministerin ist gleich mehrfach unglaubwürdig: Der Fingerzeig auf die Rohstoffinteressen der neuen Geber hat zwar den Charme der traditionellen Neokolonialismus-Kritik, fällt jedoch direkt auf die Füße der „alten Geber“ zurück. Das Auftreten der neuen Geber ist vielleicht der einzige Lichtblick der entwicklungspolitischen Szenerie der letzten Jahre: Er macht es für die ärmeren Länder des Globus erst möglich, klug zwischen verschiedenen Gebern auszuwählen, und vergrößert somit ihren Politikspielraum. In diesem Zusammenhang von „Shoppen“ zu reden, enthüllt, wie sehr der größte westliche Geber (und fast ein Schlusslicht, gemessen am eigenen Bruttonationaleinkommen - BNE) entwicklungspolitische Beziehungen immer noch als Geschäft ansieht.

Die anderen westlichen „Geber“ sind nicht besser. Rechtzeitig zur Busan-Konferenz hat der Deutsche Bundestag den Haushalt für 2012 verabschiedet und damit – nicht nur nach Auffassung des NGO-Dachverbands Venro – seine letzte Chance vertan, das 0,7%-Ziel zu erreichen. Zwar erhöht sich mit diesem Haushalt der BMZ-Etat um 163,79 Mio. € auf 6,38 Mrd. im Vergleich zu 2011. Internationale Zusagen, so eben die Anhebung des Anteils der Entwicklungshilfe am BNE auf 0,7% bis zum Jahr 2015, sind so allerdings nicht zu erreichen. Damit erweist sich auch der entwicklungspolitische Konsens, den mehr als 365 Abgeordnete fraktionsübergreifend unterzeichnet haben, als wirkungslos. Die Unterzeichner sprachen sich für eine Erhöhung des Entwicklungsetats um 1,2 Mrd. € aus. Die stellvertretende Venro-Vorsitzende Christa Randzio-Plath ist deshalb „maßlos enttäuscht“. Recht hat sie.

Man könnte freilich auch die Frage aufwerfen, ob der ganze Wirksamkeitsdiskurs nicht zur gefälligen Kulisse für die Kürzungsorgie degeneriert, die uns in den nächsten Jahren erst noch bevorsteht. Gerade kürzlich hat Jomo Kwame Sundaram, der Stellvertretende UN-Generalsekretär für wirtschaftliche Entwicklung, noch einmal davor gewarnt, die gesammelten Hilfeversprechen der letzten Jahre dem Druck der Krise zu opfern. Er sieht die Entwicklungszusammenarbeit schlicht „im Belagerungszustand“.

30. November 2011

Zuspitzung des Streits um Finanztransaktionssteuer im Bundestag

So ungeschminkt und selbstentlarvend haben Vertreter der Finanzbranche selten zugegeben, dass sie am liebsten keinerlei Steuern bezahlen wollen: „Die beste Idee ist ein Steuersatz von Null“, sagte der Sachverständige Volker Wieland (House of Finance) heute auf einer Anhörung des Finanzausschusses im Deutschen Bundestag zur Finanztransaktionssteuer (FTT). Während Wirtschaftsverbände, Börsen und Banken die FTT äußerst kritisch bis ablehnend sahen, wurde sie von NGOs und Wissenschaftlern als wichtiges Instrument zur Eindämmung der Spekulation begrüßt. In der Anhörung ging es um einen Antrag der SPD-Fraktion (17/6086), die die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer fordert. Erfasst werden sollen alle börslichen und außerbörslichen Transaktionen von Wertpapieren, Anleihen und Derivaten mit einem Steuersatz von 0,05%. Außerdem waren der Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie zur FTT und das deutsch-französische Positionspapier zu dieser Steuer Gegenstand der Anhörung.

Die Deutsche Kreditwirtschaft, der Zusammenschluss der Bankenverbände, lehnte diesen Beitrag jedoch ab und behauptete negative Auswirkungen auf die Konjunktur. Selbst die EU-Kommission erwarte bei einer EU-weiten Steuer von 0,1% auf Aktien (0,01% auf Derivate) eine Einbuße des Bruttoinlandsprodukts von 1,76%. Die Finanztransaktionssteuer treffe nicht nur die Finanzinstitute, sondern alle Erwerber von Finanzprodukten, darunter auch Kleinsparer. Ähnlich äußerten sich die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft in einer gemeinsamen Stellungnahme. Danach würden auch die Unternehmen belastet, die Liefergeschäfte gegen Zins- und Währungsrisiken durch Derivate absichern würden. Der Vertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) sagte auf die Frage, wer das von der EU geschätzte Steueraufkommen von 57 Mrd. € zu tragen habe: „Das werden Bürger und Realwirtschaft sein.“ Der Bundesverband Investment und Asset Management erklärte: „Die Belastung hätten vor allem Langfrist- und Altersvorsorgesparer zu tragen.“

Franz Mayer (Universität Bielefeld) sah in der Vereinbarkeit der Finanztransaktionssteuer mit dem Binnenmarkt dagegen keine Probleme: „Unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit der vorgesehenen Gesetzgebung bestehen auch gegen die Höhe der avisierten Steuer keine Bedenken, auch nicht unter grundrechtlichen Aspekten“, erklärte er zum Vorschlag der EU-Kommission. Stephan Schulmeister (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung) befürwortete ebenfalls die Steuer, die auf den Märkten dafür sorgen könne, „dass extreme Ausschläge schwächer werden“. Ein Allheilmittel sei die neue Steuer aber nicht. Schulmeister hielt die stark gestiegenen Zinssätze für eine Folge der zunehmenden Spekulation.

Gustav Horn (Hans-Böckler-Stiftung) widersprach der Darstellung der Wirtschaftsvertreter, wonach die EU-Kommission bei Einführung der Steuer eine Rezession erwarte. Das habe die Kommission nie gesagt, erklärte Horn. „Einige Gegner der Steuer halten hartnäckig an dem Argument fest, die Steuer würde den Kleinsparer treffen. Ebenso hartnäckig muss der Einwand zurückgewiesen werden“, erklärte Detlev von Larcher von Attac. Durch die niedrigen Steuersätze sei die Steuer bei einzelnen Transaktionen kaum spürbar und „im Vergleich mit den gleichzeitig anfallenden Gebühren vernachlässigbar“.

Auch der von der Deutschen Börse und der Börse Stuttgart in Stellungnahmen befürchtete Umsatzverlust an außereuropäische Handelsplätze ist nach Ansicht von Attac „maßlos überzeichnet“, da jede Transaktion einer Institution oder Person mit Sitz in der EU steuerpflichtig wäre, auch wenn der Handel an einer Börse außerhalb des EU-Gebiets stattfindet (Ansässigkeitsprinzip). Zur Steuervermeidung wäre die Verlegung des Wohn-oder Geschäftssitzes notwendig.

Der Börsenmakler Dirk Müller erklärte, es gebe zu viel Spekulation. Behauptungen, Derivate würden der Kursabsicherung dienen, bezeichnete er als „Augenwischerei“. Das gelte nur für einen ganz kleinen Teil des Handels. Privatanleger und Versicherungen würden wegen der starken Kursschwankungen den Aktienmarkt verlassen. Dann könnten sich die Unternehmen nur sehr schwer Kapital besorgen. Müller sprach sich für die Transaktionssteuer aus: „Von 0,05% geht die Welt nicht unter.“

* Alle schriftlichen Stellungnahmen zur Anhörung finden sich >>> hier.

28. November 2011

US-Wissenschaftler: Die FED soll in Europa intervenieren!

Jetzt fordern bereits US-Wissenschaftler, die amerikanische Zentralbank Federal Reserve (FED) solle in die europäischen Märkte intervenieren, um die ideologische Blockade der Europäer und insbesondere der Deutschen gegen eine wirksame Bekämpfung der europäischen Krise aufzulösen. Die beiden Ko-Direktoren des in Washington ansässigen Center for Economic and Policy Research (CEPR), Dean Baker und Mark Weisbrot, haben die FED heute in einer Erklärung dazu aufgerufen, die europäischen Anleihemärkte durch den Aufkauf italienischer und spanische – und bei Bedarf weiterer Bonds zu stabilisieren. Das Risiko einer finanziellen Kernschmelze in Europa sei beträchtlich und wachse jeden Tag. Die finanziellen Folgewirkungen könnten dramatischer ausfallen als beim Lehman-Zusammenbruch 2008 und auch die US-Ökonomie in die Rezession stoßen.

In der Tat bewegt sich die europäische Politik zu langsam, um die wachsenden Risiken einzudämmen. Ein Warner wie der Financial-Times-Kolumnist Wolfgang Münchau gibt der Eurozone in seinem heutigen Kommentar nur noch wenig mehr als zehn Tage, um einen Zusammenbruch abzuwenden. Vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) weigert sich, ihre Funktion als Zentralbank zu erfüllen und als Lender of Last Resort in Krisenzeiten zu agieren. Eigentlich müsste die EZB intervenieren, um den Anstieg der Risikoaufschläge spanischer und italienischer Bonds auf ein Niveau zu verhindern, das wie im Falle Griechenlands, Portugals und Irlands die Kreditaufnahme an den privaten Kapitalmärkten unbezahlbar macht. Zu allem Überdruss hat die deutsche Kanzlerin in der letzten Woche auch die Ausgabe gemeinsamer Eurobonds direkt zurückgewiesen, und dies in einer Situation, in der die Europäische Kommission mit praktikablen Vorschlägen in dieser Richtung kommt.

Nach Auffassung der beiden US-Ökonomen schafft das Versagen der EZB für die FED die Notwendigkeit zu handeln, und zwar im Rahmen ihres Mandats, das die Förderung der Vollbeschäftigung in den USA einschließt. Ihre Intervention könnte den Teufelskreis der sich nach oben drehenden Schuldenspirale in Europa durchbrechen und damit auch die möglichen Auswirkungen auf die Weltkonjunktur abmildern. Die FED hat im Rahmen der geldpolitischen Lockerung über 2 Billionen Dollar in die US-Wirtschaft gepumpt, mit dem Ergebnis der Absenkung der langfristigen Zinssätze und ohne Kosten für die Steuerzahler. Die FED könnte nach Meinung von Baker und Weisbrot ein ähnliches Programm zum Aufkauf europäischen Staatsanleihen auflegen. Es wäre weniger umfangreich und könnte der EZB vielleicht Beine machen.

9. November 2011

FTT: Breitseite von der Insel

Nur ein paar Tage nach dem G20-Gipfel in Cannes hat die britische Regierung eine aggressive Breitseite gegen einen europäischen Alleingang bei der der Einführung der Finanztransaktionssteuer (FTT) gestartet. Bei der gestrigen Ecofin-Sitzung in Brüssel bezeichnete Londons Finanzminister George Osborne das deutsch-französische Drängen auf ein Vorangehen bei der FTT als „abstrus und den Vorschlag der Europäischen Kommission als eine „große Steuer auf Pensionäre“, während „kein einziger Banker dafür bezahlen“ müsste. Warum sollten wir unsere Zeit mit der Diskussion über etwas vergeuden, was wir ohnehin blockieren werden, soll er gesagt haben.

Die Leute von der britischen Kampagne für die „Robin Hood Tax“ haben die abstrusen Argumente des Ministers umgehend widerlegt (>>> Protecting the City of London), doch entlarvender ist, dass die konservative britische Regierung mit ihrem Auftritt unter Beweis gestellt hat, dass ihr bisheriges Argument, es müssten alle mitmachen, nur vorgeschoben war. Weder in Cannes noch in Brüssel hat irgendjemand etwas davon bemerkt, dass Großbritannien dafür geworben hätte, andere mit ins Boot der FTT-Steuer zu holen. Man will sie einfach nicht, weil man sich als Interessenvertreter des Londoner Finanzplatzes sieht.

Dem deutschen Finanzminister ist somit absolut Recht zu geben: „Wir müssten 20 Jahre warten, wenn wir auf die letzte Insel auf diesem Planeten warten würden“, sagte Schäuble in Brüssel. Nur müssten die Euro-Europäer jetzt einen Zahn zulegen, um die FTT möglichst rasch in ihrer Zone einzuführen, bevor neue Bedenkenträger am Horizont aufkreuzen. Praktikable Modelle dafür liegen längst vor. Nur wenn jetzt tatsächlich damit begonnen wird, ist auch die Hoffnung darauf berechtigt, neue Dynamik zu erzeugen und andere mitzuziehen. Wenn nicht, könnte schnell ein Kipppunkt erreicht werden, hinter dem der Schwung wieder abebbt und das FTT-Projekt auf weitere Jahre hinaus in den Mühlen der Eurokratie versandet. Niemals war der Slogan "FFT Now!" aktueller.

Finanzmaerkte regulieren und Einkommen gerecht verteilen

Aufruf von über 50 Wissenschaftlern

Die öffentliche Diskussion um die „Schuldenkrise“ vor allem in Griechenland, aber auch Irland, Portugal, Spanien und Italien geht von einer falschen Diagnose aus und kommt so zu einer Therapie, die das Problem verschärft und nicht beseitigt. Es war keineswegs die Prasserei der öffentlichen Hand, die zu den aktuellen Zahlungsschwierigkeiten der Länder des Euro-Raums geführt hat.

Ursache des hohen Schuldenstandes war die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die vergleichsweise harmlos als Hypotheken-Kreditkrise 2007 in den USA begann, sich dann aber zu einer globalen Krise von historischem Ausmaß weiterentwickelt hat. Es handelt sich dabei um eine Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der auf spekulativen Blasen beruht, die zwangsläufig irgendwann platzen müssen. Als es soweit war, waren die Banken von Insolvenz bedroht und die Staaten eilten ihnen mit Milliardenkrediten und Bürgschaften zur Hilfe. Gleichzeitig führte die Kreditklemme der Banken zu einer Rezession, wie man sie seit 1949 nicht mehr erlebt hatte. Damit stiegen die Ausgaben der Staaten extrem und die Einnahmen brachen weg. Die „Schuldenkrise“ ist also keine neue Krise, sondern die Fortsetzung der globalen Finanzkrise. Dazu kommt das Problem, dass der Eurozone eine einheitliche Sozial-, Steuer- und Lohnpolitik fehlt, weil die marktradikale Ideologie trotz einheitlicher Währung an der Konkurrenz der Euro-Staaten auf den Weltfinanzmärkten festhielt.

Die von der EU verordneten Kürzungsprogramme haben in den betroffenen Ländern das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen sollten. Nicht nur die Wirtschaftskrise wurde verschärft, sondern auch noch die Schuldenkrise selbst. Die betroffenen Länder werden systematisch in die Rezession getrieben. Schuldenbremsen und Stabilitätsversprechen sind in einer solchen Situation reine Augenwischerei.

Dagegen wurde das Prinzip des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus nicht angetastet. Die angebliche Regulierung der Finanzmärkte durch neue EU-Gesetze folgte dem Irrglauben, Transparenz der Märkte führe zu erhöhter Sicherheit. Die Banken-Stresstests erweisen sich als Fata Morgana – tatsächlich würden die Banken eine Griechenlandpleite nicht überleben und deshalb sollen jetzt wieder die Staaten nach dem Willen der EU frisches Geld zur Verfügung stellen. Das Prinzip der Kapitalverkehrsfreiheit wurde nicht angetastet, die Finanzmärkte bleiben unreguliert, und die Banken und Anteilseigner streichen weiter, ohne selbst Leistung erbringen zu müssen, hohe Gewinne ein.

Europa steht vor der Wahl, in der Krise auseinander zu fallen oder Wege zu einem anderen Wirtschaftsmodell einzuschlagen. Erste Schritte auf diesem Weg müssen in der Entmachtung der „Finanzindustrie“ durch eine scharfe Regulierung und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen bestehen. Der Anteil leistungsloser Einkommen am Volkseinkommen ist drastisch zu senken, indem z.B. Spekulationsgewinne hoch besteuert werden und eine Finanztransaktionssteuer eingeführt wird, die die Finanzmärkte deutlich entschleunigt. Gleichzeitig sind z.B. über Mindestlöhne die Einkommen der arbeitenden Menschen zu erhöhen. Ein Schuldenschnitt ist unvermeidbar, es kommt aber dabei darauf an, wie er gestaltet wird. Es braucht ein Verfahren, das es ausschließt, dass weiter die Gewinne privatisiert und die Kosten sozialisiert werden. Das Hoffen auf eine freiwillige Beteiligung der Finanzindustrie ist müßig. Die Banken müssen einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden, große Vermögen müssen durch die Einführung einer Vermögenssteuer an den Kosten der Krise beteiligt werden.

Das ist das Gegenteil der vorherrschenden Krisenpolitik, einer Krisenpolitik, die hoffnungslos delegitimiert ist. Die Menschen empören sich darüber, dass die Politik die Interessen der 99% ignoriert und die Demokratie dem sog. freien Markt unterordnet. Mit der Occupy-Bewegung entsteht weltweit Widerstand gegen diese Politik. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich der Bewegung anzuschließen.

Die Liste der Unterzeichner finden Sie >>> hier.

8. November 2011

Das inkrementelle Scheitern der G20: Wo stehen wir nach Cannes?

Da sind sich wieder einmal alle einig: Das war ein Gipfel der Enttäuschungen, der verpassten Chancen und letztlich des Scheiterns. Dabei ist das Versagen nicht einmal darauf zurückzuführen, dass die erneute Zuspitzung der Eurokrise die eigentliche Agenda in den Hintergrund gedrängt hätte. Auch ohne Eurokrise wären die Ergebnisse des G20-Gipfels kaum besser ausgefallen. Es ist ein inkrementelles Scheitern – Schritt für Schritt.

Gewiss – es war ein Novum, dass Europa so sehr ins Zentrum dieses „ersten Forums unserer internationalen wirtschaftspolitischen Koordinierung“ (so die G20 in Pittsburgh über sich selbst) gerückt ist. Richtig ist auch, dass dieses Europa eher eine Belastung als eine Inspirationsquelle für diese G20 ist, die sich ihrerseits als „eine aufgeblasene Variante der nutzlosen G8“ erweist, so ein Schweizer Ökonom in der letzten Woche. Das offizielle Motto der Tagung forderte „neue Ideen für eine neue Welt“ („Nouveau monde – nouvelles idées“). Doch beherrschend waren die alten Querelen und das alte Schneckentempo, in dem sich – wenn überhaupt – Veränderungen Bahn brechen.

So beginnt meine ausführliche Auswertung des Gipfels von Cannes, die jetzt online ist >>> hier.

4. November 2011

Das war es - live aus Cannes

So, das war er, der Live-Blog vom G20-Gipfel. Eine ausführliche und detaillierte Analyse der Gipfel-Ergebnisse erscheint Anfang nächster Woche auf www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org.

Cannes: Der IWF als lachender Dritter

Zwischen der Dominanz der Eurokrise und der mindestens halb entgleisten französischen Agenda erweist sich wieder einmal der Internationale Währungsfonds (IWF) als lachender Dritter. Zwar kam es nicht zu der erneuten Verdoppelung seiner „Feuerkraft“, über die noch gestern Abend und heute früh spekuliert wurde. Doch sichtlich gut gelaunt erläuterte IWF-Chefin Christine Lagarde hier auf dem Gipfel, dass die G20 künftig für unbegrenzte finanzielle Ressourcen des Fonds gerade stehen werde, damit dieser seine „systemischen Aufgaben“ wahrnehmen könne, „whatever it costs“. Sie bezog sich dabei auf die folgende Passage im Gipfel-Kommuniqué:

„Wir werden sicherstellen, dass der IWF auch in Zukunft über die Ressourcen verfügen wird, um seine systemische Rolle zum Vorteil seiner gesamten Mitgliedschaft zu spielen, aufbauend auf den substanziellen Ressourcen, die wir bereits seit London 2009 mobilisiert haben. Wir stehen bereit, um sicherzustellen, dass zusätzliche Ressourcen rechtzeitig mobilisiert werden können und beauftragen unsere Finanzminister, bis zu ihrem nächsten Treffen eine Reihe verschiedener Aufbringungsoptionen auszuarbeiten, darunter bilaterale Beiträge zum IWF, Sonderziehungsrechte und freiwillige Beiträge zu einer IWF-Sonderstruktur, etwa ein Sonderkonto.“

Das sei zwar kein Blankoscheck, aber doch ein starkes Votum für den IWF, dessen Bedeutung in den kommenden Finanzkrisen sicher nicht abnehmen werde. Überhaupt nehme Lagarde aus Cannes viel mit zurück nach Washington, vom vierteljährigen Monitoring der Berlusconi’schen Reformen, um die die Italiener gebeten haben, bis hin zur Schaffung einer neuen Kreditlinie, die sie schon bald im Executive Board beantragen werde.

Und auf eine weitere Innovation im Kommuniqué wies Lagarde hin, den Aufruf an internationale Organisationen, vor allem die UN, die WTO, die ILO, die Weltbank, den IWF und die OECD, „ihren Dialog und ihre Zusammenarbeit voranzubringen, einschließlich der sozialen Konsequenzen ihrer Wirtschaftspolitiken, und ihre Koordination zu intensivieren.“ Die Berücksichtigung der sozialen Konsequenzen sei eine besondere Herausforderung für IWF und ILO, die im letzten Jahr – noch unter Lagardes Vorgänger Strauss-Kahn – eine neuartige Kooperation vereinbart haben. Recht hat sie – doch es bleibt abzuwarten, wie dieser neue Zungenschlag vor Ort, „on the ground“, bei der Durchführung der diversen IWF-Missionen, ankommen wird.

Cannes G20-Gipfelkommunique veroeffentlicht

Das Gipfelkommuniqué von Cannes ist soeben veröffentlicht worden >>> hier. Die Analyse und Kommentierung folgt.

Nichts neues im Kampf gegen Steuerflucht

Großspurig verkündete OECD-Generalsekretär Angel Gurría in Cannes: „Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei.“ So lautet der Titel seines Berichts an die G20-Regierungschefs. „Mission accomplished“, könnte man also denken. Denn genau dies, das Ende des Bankgeheimnisses und das Ende der Steueroasen hatten die G20 bereits vor über zwei Jahren auf dem Gipfel in London verkündet. Ein ähnliches Lied singt der Fortschrittsbericht zum Thema Steuertransparenz 2011, den das OECD-Forum für Steuerfragen der G20 in Cannes überreicht hat. Doch die Fortschrittsbehauptungen werden auch durch ständiges Wiederholen nicht richtiger.

Alle G20-Länder haben inzwischen die OECD-Konvention über gegenseitige Unterstützung in Steuerfragen unterzeichnet. Die Konvention soll den gegenseitigen Informationsaustausch bei der Bekämpfung der Steuerflucht unterstützen. Dieser erfolgt allerdings lediglich auf Anfrage, wobei die Rechercheure schon ziemlich genau wissen müssen, was sie wissen wollen. Die Vereinbarungen bleiben also deutlich unter der Forderung nach einem automatischen Informationsaustausch. Der sog. OECD-Standard erlaubt Ländern wie der Schweiz und Luxemburg sogar, weiterhin an ihrem Bankgeheimnis festzuhalten und dem Druck nach weitergehenden Veränderungen zu widerstehen. Ähnliches gilt für die Forderung nach einem Country-by-country-Reporting von internationalen Konzernen und Banken. Auch dies ist bislang nicht vorgesehen, so dass konzerninterne Verrechnungspreise und andere clevere Steuervermeidungsstrategien weiterhin an der Tagesordnung bleiben. – Nichts Neues also im Kampf gegen Steueroasen im Festivalpalast von Cannes, in dem sinnigerweise auch ein Kasino untergebracht ist.

3. November 2011

Bill Gates als Gipfellichtblick

Für die einen verschaffte er „Erholung von der griechischen Tragödie“ (so Bonos NGO One), für die anderen war es ein „heller Spot auf einem ansonsten düsteren Gipfel“ (so das internationale Netzwerk ActionAid). Es geht um den heute veröffentlichten Bericht über innovative Entwicklungsfinanzierung, den Bill Gates im Auftrag für die G20 verfasst hat (>>> Der Gipfel von Cannes in Dokumenten). Wenngleich der Report ein ganzes Spektrum von Finanzierungsquellen abhandelt und dabei die reichen Industrieländer auch an die Einhaltung ihrer traditionellen Entwicklungshilfezusagen erinnert und Vorschläge zur Mobilisierung finanzieller Ressourcen innerhalb der armen Länder unterbreitet (z.B. durch die Verbesserung der Steuersysteme), ist er von seltener Klarheit in Bezug auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT). Darüber hinaus plädiert er für CO2-Steuer auf Flugzeuge und Schiffstransporte sowie für eine Tabak-Solidaritätssteuer.

Geradezu enthusiastisch findet Oxfam dieses Plädoyer und hofft, dass es die bisherigen Befürworter wie Frankreich und Deutschland ermutigt, die Skeptiker wie Kanada, die USA und Großbritannien zu überzeugen. Die französischen Gastgeber verstehen diesen Gipfel inzwischen als eine wichtige Etappe für die Formierung einer „Koalition der Willigen“, die bereit ist, auf dem Weg der FTT-Einführung voranzugehen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass der französische Präsident soeben bekannt geben konnte, dass sich in der ersten Runde der Arbeitssitzungen auch Brasilien und Argentinien prinzipiell für die FTT ausgesprochen haben. Dies deshalb, wie der Sprecher einer französischen NGO heute erläuterte, weil eine exklusiv europäische FTT-Front ohne Unterstützung aus dem Süden Gefahr laufen würde, aller steuerlichen Mehreinnahmen für die finanzielle Bewältigung der europäischen Schuldenkrise zu verwenden.

Der Gates-Bericht ist dieser Gefahr nicht erlegen, sondern tritt klar und deutlich für die Verwendung eines Großteils der Neueinnahmen zugunsten von Entwicklung und Klimaschutz ein. Und je nach Berechnungsweise geht es um eine Menge Geld. O-Ton Bill Gates: „Einige Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass selbst eine kleine Steuer von zehn Basispunkten auf Aktien und zwei Basispunkten auf Anleihen Erträge von 48 Mrd. Dollar G20-weit erbringen würde oder 9 Mrd. Dollar bei Beschränkung auf die größeren europäischen Ökonomien. Andere FTT-Vorschläge bieten weit höhere Schätzungen, und zwar zwischen 100 und 250 Mrd. Dollar pro Jahr, vor allem wenn Derivaten mit eingeschlossen werden.“

G20-Gipfel: Angesteckt und handlungsunfaehig

„L’Histoire s’écrit à Cannes“ steht immer noch auf den Bannern, die die Gastgeber an jedem zweiten Laternenpfahl haben aufhängen lassen. Doch Geschichte wird in Cannes nicht geschrieben werden – jedenfalls nicht so, wie sich das die französische Präsidentschaft einmal vorgestellt hat: Cannes sollte zu einem zweiten Bretton Woods mutieren, mit der Proklamation einer neuen internationalen Währungsordnung und einer gestärkten ökonomischen Governance über die globalen Finanzmärkte. Das kam jetzt alles anders, weil ein kleines Land gegen das Austeritätsregime der EU, des IWF und der Deutschen Bundesbank, sorry: der EZB, revoltiert und sein verzweifelter sozialdemokratischer Premierminister mit einem Volksentscheid die Flucht nach vorne antreten will.

Statt die mit der globalen Finanzkrise einhergehende Ansteckungsgefahr zu bannen, sind die G20 also selbst angesteckt worden. Keine großen Visionen, sondern kurzfristiges Krisenmanagement ist jetzt das Gebot der Stunde. Dabei ist die Annahme ziemlich unrealistisch, dass die G20 den Brandherd, den die EU nicht unter Kontrolle bringt, wird löschen können. In der Gründungsphase der G20 wurde gesagt, ein wesentlicher Existenzgrund sei der Umstand, dass nach der Asienkrise und der globalen Finanzkrise auch die großen Akteure der aufstrebenden Welt mit ins Boot geholt werden mussten. Das ist geschehen. Gegenüber Griechenland ist dergleichen nicht im Gespräch. Die großen Schwellenländer sind inzwischen zwar die Stabilitätsanker der Weltwirtschaft. Griechenland gegenüber sind sie aber ziemlich ratlos und die G20 als Gruppe auch handlungsunfähig, weil sie nur für sich selbst Willensbekundungen abgeben kann.

Hinter dieser Ungleichbehandlung von Kleinen und Großen verbirgt sich das bis heute ungelöste Legitimationsproblem der G20: Sie sind ein exklusiver Klub, der nur die wirtschaftliche stärksten Player einschließt. Die Hotspots der europäischen Schuldenkrise, von Irland über Portugal bis Griechenland, gehören nicht dazu. Sie müssen sich von anderen EU-Mitgliedern und der Europäischen Kommission mit vertreten lassen. Und wenn sie das nicht wollen oder können – dann müssen sie eben raus, wie wir seit der Pressekonferenz von Merkel und Sarkozy heute Nacht wissen.

2. November 2011

Starker Einbruch der Entwicklungshilfe prognostiziert

Nach neuesten Berechnungen von Oxfam wird die weltweite Entwicklungshilfe bis Ende 2012 um rund 9,5 Mrd. US-Dollar einbrechen. Dies wäre der schwerste Rückgang seit 15 Jahren. Die Schätzungen basieren auf der aktuellen und prognostizierten Entwicklung der Entwicklungshilfe-Budgets der OECD-Staaten. Die massiven Kürzungen in Italien, den USA, Spanien und den Niederlande belaufen sich auf rund 11,2 Mrd. Dollar und werden nur zum geringeren Teil durch Steigerungen in Australien und, in noch kleinerem Umfang, in Deutschland und Großbritannien kompensiert.

Anlässlich des G20-Gipfels in Cannes fordert Oxfam, statt die Hilfe massiv zu kürzen, sollten sich die Industrieländer lieber an ihre früher abgegebenen Versprechen erinnern. Es sei schamlos, die ärmsten Völker für die Austeritätspolitik der Reichen büßen zu lassen. Entwicklungshilfe macht nur einen kleinen Anteil am Einkommen der reichen Nationen aus; in der restlichen Welt leben mehr hungernde Menschen als in Nordamerika und Europa zusammengenommen: „Wie kann man denen erzählen, dass es kein Geld für Entwicklungshilfe, während die Boni der Banker, die die Krise verursacht haben, explodieren?“ – so Oxfam-Sprecher Jörn Kalinski in Cannes.

Als Alternative fordert Oxfam wie viele hier am Rande des Gipfels die unverzügliche Einführung einer Finanztransaktionssteuer und eine Emissionsabgabe auf den internationalen Schiffsverkehr. Die Bundesregierung sollte sich, wie Frankreich, klar zur Verwendung eines wesentlichen Teils der Steuereinnahmen zur Unterstützung armer Länder bekennen.

Kapitalkontrollen: Wenn die G20 doch einmal schweigen wuerden

Ein Kommentar von Jose Antonio Ocampo, Stephany Griffith-Jones und Kevin P. Gallagher

Als der französische Präsident Nicolas Sarkozy als Gastgeber des diesjährigen G20-Gipfels, der am 3. und 4. November in Cannes stattfinden wird, die Zügel übernahm, forderte er den Internationalen Währungsfonds auf, einen erzwingbaren „Verhaltenskodex“ für den Einsatz von Kapitalkontrollen (oder, wie wir lieber sagen, Kapitalbilanzregeln) in der Weltwirtschaft zu entwickeln. Der IWF kam dem nach und veröffentliche im vergangenen April eine Reihe vorläufiger Leitlinien.

Auf der Tagesordnung der G20, die auf eine Stärkung der Finanzregulierung abzielt, fehlt die Regulierung grenzüberschreitender Kapitalflüsse seltsamerweise. Dabei sie sind ein zentrales Element bei der finanziellen Volatilität, die die Rufe nach stärkerer Regulierung überhaupt erst hat aufkommen lassen. Der IWF hat nachgewiesen, dass jene Länder, die Kapitalbilanzregeln einsetzten, zu den während der schlimmsten Phase der globalen Finanzkrise am wenigsten stark betroffenen Ländern gehörten. Seit 2009 akzeptiert er, dass derartige Regeln nützlich sind, um den massiven Zufluss von „heißem Geld“ in die Schwellenmärkte unter Kontrolle zu halten, und empfiehlt sie sogar.

Trotzdem ist der vom IWF vorgeschlagene Kodex, auch wenn er ein Schritt in die richtige Richtung ist, fehlgeleitet. Eine Billigung der Leitlinien des Fonds durch die G20 wäre daher für eine Weltwirtschaft, die gerade versucht, sich von einer Finanzkrise zu erholen und zugleich die nächste zu verhindern, unklug.

Angesichts niedriger Zinsen und einer langsamen Konjunkturerholung in den entwickelten Ländern, die mit hohen Zinsen und einem hohen Wachstum in den Schwellenmärkten einherging, strömten die Investoren in Scharen von Ersteren in Letztere – nach Brasilien, Chile, Südkorea, Taiwan und anderswo. In den letzten Monaten dann flohen sie aus diesen Schwellenländern, was einmal mehr zeigte, wie volatil und gefährlich derartige Kapitalflüsse sind...

... lesen Sie den kompletten Kommentar >>> hier.

Griechische Ueberraschung ueberschattet Gipfel

Damit hatte hier wohl keiner gerechnet, weder die Gipfelkritiker auf dem Alternativgipfel in Nizza noch die Heerschar der offiziellen Delegationen in Cannes. Die Überraschung war perfekt, als der griechische Ministerpräsident George Papandreou ankündigte, über das letzte Woche beschlossene jüngste Rettungspaket von EU und IWF für Griechenland ein Referendum abzuhalten. Natürlich ist es völlig legitim, wenn ein Politiker dem Volk die letztliche Entscheidung über ein so einschneidendes Maßnahmenpaket überlässt. Aber wie bestimmte Oppositionspolitiker in Deutschland, die jetzt die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken fordern, sich fragen lassen müssen, ob sie dies nicht auch schon wussten, als sie noch an der Regierung waren, muss die Frage erlaubt sein, warum Papandreou dies nicht schon in der vergangenen Woche auf dem EU-Gipfel in Brüssel ansprach.

Die neue Eurokrise 2.0, die jetzt sicherlich kommen wird, belastet den G20-Gipfel in mehrfacher Weise, noch bevor er überhaupt begonnen hat. Die G20 hatte gehofft, dass Europa seine Probleme im Grundsatz noch vor dem Gipfel lösen würde, um bei den Hauptgipfelthemen, etwa der Finanzmarktregulierung, dem Umgang mit systemrelevanten Banken (SIFIs) und dem Ausgleich zwischen Überschuss- und Defizitländern, voranzukommen. Die griechische Überraschung kommt jetzt der Aufforderung „Zurück zum Start“ gleich.

Auch die ehrgeizige französische G20-Agenda mit dem Ziel eines neuen internationalen Währungssystems dürfte jetzt weiter entgleisen (>>> Der Gipfel von Cannes: Der Lack ist ab). Wie soll von Europa der Schwung zur Reform des globalen Währungssystems ausgehen, wenn die eigene Gemeinschaftswährung voller Konstruktionsfehler ist und deshalb von der einen zur nächsten Krise strauchelt? – Man wird abwarten müssen, was die Krisentreffen von Sarkozy, Merkel, Barroso, Papandreou und der Chefs diverser internationaler Organisation heute am frühen oder späteren Vorabend des Gipfels ausrichten werden. Die Rücknahme des griechischen Referendums wird man von Papandreou nicht erwarten können – es sei denn man wollte ihn gleich für politisch tot erklären. Bei den Protestlern gestern in Nizza ist er mit seiner Entscheidung jedenfalls auf neue Sympathie gestoßen.

31. Oktober 2011

NGOs beim G20-Gipfel in Cannes: Scheideweg?

Die meisten NGOs, sofern sie sich überhaupt mit dem G20-Gipfel in Cannes beschäftigen, erwarten Durchbrüche in zwei Bereichen: Sie wollen eine Entscheidung über die Einführung der Finanztransaktionssteuer (FTT) und ein klares Votum, dass deren Erträge für die Armutsbekämpfung und den Klimaschutz verwendet werden. Und sie wollen, dass in Cannes konkrete Beschlüsse zur Eindämmung der ausufernden Spekulation mit Nahrungsmitteln gefasst werden. Oxfam fügt noch hinzu, dass der Gipfel auch die festgefahrenen Klimaverhandlungen wieder in Gang bringen müsse.

Insgesamt sieht Oxfam die G20 an einem Scheideweg: Die G20 könnte einen „Richtungswechsel zu weltweiter Stabilität und sozial und ökologisch nachhaltigem Wohlstand“ auf den Weg bringen, „wenn die G20 über den Schatten ihrer kurzfristigen Eigeninteressen springen“. „Die G20 müssen nun in Cannes unter Beweis stellen, wie ernst es ihnen damit ist, das maßlose Zocken der Spekulanten einzudämmen.“ Wirklich?

Allmählich stellt sich die Frage, ob die Artikulation solcher Erwartungen dem Wunschdenken der NGOs entspringt oder ob die Latte im Vorhinein so hoch gelegt wird, dass hernach umso stärker auf die enttäuschenden Beschlüssen draufgehauen werden kann. Eine Einführung der FTT durch die G20 wird es jedenfalls nicht geben. Dies lässt sich mühelos im Umkehrschluss aus dem heutigen Interview mit Finanzminister Wolfgang Schäuble herauslesen, der schon mal vorsorglich deren Einführung in der Eurozone angekündigt hat. Das wäre schon mal ein großer Erfolg der NGOs, der weitere nach sich ziehen könnte.

Was das Vorgehen gegen die Nahrungsmittelspekulation betrifft, sieht es ähnlich aus. Bei einer Veranstaltung in der letzten Woche war aus deutschen Sherpa-Kreisen zu vernehmen, dass sich die Bundesregierung im Vorfeld des G20-Gipfels weder auf Positionslimits noch auf ein Handelsverbot für bestimmte Investorengruppen festlegen wollte (>>> G20-Gipfel in Cannes: Der Lack ist ab). Aber das Thema bleibt dennoch auf der Agenda – auch nach Cannes.

Schließlich: Die G20 als Wiederbelebungsinstrument der Klimaverhandlungen? Auf der Agenda steht ein Abgabesystem für den internationalen Schiffsverkehr. Dadurch würden klimaschädliche Treibhausgase reduziert, und die erzielten Einnahmen könnten arme Länder bei der Anpassung an die Folgen des Klimawandels unterstützen. „Über eine Abgabe auf Schiffsdiesel-Treibstoffe lassen sich pro Jahr 10-15 Mrd. US-Dollar für den Green Climate Fund erwirtschaften“, erklärt Oxfam. Nur: Die Verhandlungen über den Grünen Klimafonds haben soeben einen herben Rückschlag erlitten. Und die G20 sind nicht gerade das ideale Instrument, sie wieder in Gang zu bringen.

30. Oktober 2011

Auch Gruene nehmen Grossbanken ins Visier

Manchmal klappt es ja zwischen drinnen und draußen. Während in der letzten Woche Attac-Aktivisten vor dem Bundestag ein 15 Meter langes Transparent mit der Aufschrift „Banken in die Schranken“ entrollten, forderten drinnen Bündnis 90/Die Grünen die Einsetzung einer Kommission zur Regulierung der Großbanken. Diese soll für Deutschland Vorschläge entwickeln, die geeignet sind, das Gefährdungspotential, das mit systemrelevanten Banken verbunden ist, die damit einhergehende implizite Staatsgarantie sowie die daraus folgenden Refinanzierungsvorteile vollständig abzubauen (Antrag 17/7359). Themenfelder der Kommission, die ihre Arbeit bis zum 30. September 2012 abschließen soll, sollen ein Trennsystem für Banken, Kapital- und Liquiditätszuschläge für systemrelevante Banken sowie das Wettbewerbsrecht sein. Nach den Vorstellungen der Fraktion sollen dem Gremium neun Mitglieder des Deutschen Bundestages und neun Sachverständige angehören.

Zur Begründung schreibt die Fraktion, international tätige Großbanken seien aufgrund ihrer Größe, Struktur und Vernetzung ein Risiko. „Sie sind aufgrund des enormen Schadens, den eine Pleite auslösen würde, zu groß und zu vernetzt zum Scheitern (too big to fail, too interconnected to fail) und können deshalb im Falle einer Schieflage mit einer staatlichen Rettung rechnen“, argumentiert die Fraktion und stellt fest: „De facto besteht für sie damit eine implizite und kostenlose Staatsgarantie, die Vorteile bei der Refinanzierung gegenüber kleineren Instituten bietet und das Eingehen größerer Risiken erlaubt.“

In Deutschland sei die Großbanken-Thematik bisher weitgehend verdrängt worden, obwohl sie auch für Deutschland unbestreitbar besteht“. So hat die Deutsche Bank mit einer Bilanzsumme von 1,9 Billionen € eine gefährliche Größe erreicht. Das Restrukturierungsgesetz sei auf Großbanken wie die Deutsche Bank nicht anwendbar, schreibt die Fraktion unter Berufung auf die Ergebnisse einer Anhörung im Bundestag.

21. Oktober 2011

Kleine Lichtblicke in der Finanzmarktreform

Gelegentlich gibt es auch auf dem dunklen Terrain der Finanzmarktreform mit seinen Schattenbanken und „Dark Pools“ (intransparenten Handelsplätzen) gewisse Lichtblicke. In der vergangenen Woche war dies gleich dreimal der Fall: Erst einigten sich das Europäische Parlament und der Rat darauf, künftig europaweit ungedeckte Leerverkäufe von Kreditausfallversicherungen (CDS) auf Staatsanleihen zu verbieten. Eine Spekulation auf Staatsbankrotte wird damit künftig zumindest stark eingeschränkt. Dann gab der Binnenmarktkommissar der EU, Barnier, seine Absicht bekannt, den Ratingagenturen künftig die Herabstufung bzw. überhaupt die öffentliche Bewertung der Bonität von Ländern zu verbieten, wenn sich diese in einem Bail-out-Verfahren befinden. Der dritte Lichtblick kommt aus den USA, wo die Commodity Futures Trading Commission (CFTC), die zuständige Behörde für die Regulierung der Rohstoffmärkte, feste Positionslimits für den Handel mit 29 Rohstoffen, darunter Nahrungsmittel, beschloss. Dies kann zu einer Einschränkung der Spekulation auf steigende Lebensmittelpreise und insgesamt zu einer Beruhigung der volatilen Märkte führen.

Sicher – die Positionslimits in den USA wurden mit einer knappen Mehrheit von 3:2 beschlossen, im Vorfeld mehrfach durch die Einflussnahme der Finanzlobby verwässert und bieten Schlupflöcher im Prozess der Umsetzung. Auch ist noch nicht ausgemacht, ob der Beschluss durch juristische Tricks und Spitzfindigkeiten wieder gekippt werden kann. Immerhin jedoch sind die im Gefolge der Dodd-Frank-Reformgesetze beschlossenen Spekulationsgrenzen exakt definiert: So soll bei den meisten Rohstoffen die Obergrenze, bis zu der spekuliert werden kann, bei 25% der handelbaren Ware liegen, beim Handel in längeren Fristen soll die reine Spekulation auf 10% bei den ersten 25.000 Kontrakten, darüber hinaus auf nur 2,5% beschränkt werden. Zum Vergleich: Die in dieser Woche veröffentlichte Foodwatch-Studie zur Lebensmittelproduktion fordert Positionslimits von 30% aller gehandelten Futures (>>> Deutsche Bank & Co. verschärfen Welthunger).

Im Gegensatz dazu geht der in dieser Woche ebenfalls vorgelegte Entwurf der EU-Kommission für eine Neufassung der Finanzmarktrichtlinie zwar auch auf das Problem der Spekulation mit Rohstoffderivaten ein, spricht aber nur nebulös von einer Berichtspflicht in Bezug auf die Positionen der Händler – eine Abschwächung, die deutlich die Einwände der Brüsseler Finanzlobby gegen konsequentere Regelungen widerspiegelt. Zusammen mit anderen Schwächen der Richtlinie – so soll der außerbörsliche OTC-Handel über neue Handelsplattformen, genannt OTF („organised trading facility“), eingeschränkt werden – ist damit kaum davon auszugehen, dass die neue Richtlinie geeignet ist, den Rückstand der EU gegenüber den Dodd-Frank-Reformen in den USA aufzuholen. Insgesamt gilt wohl die Kritik des Rats für Finanzstabilität (FSB), der Mitte Oktober in einem Bericht an die G20-Finanzminister festgestellt hat, dass bislang nur wenige Länder bei der Umsetzung der von den G20 beschlossenen Reformen der OTC-Derivate-Märkte im Plan liegen und viele die Deadline Ende 2012 wohl kaum erreichen werden.

18. Oktober 2011

Global Governance und Ernaehrungssicherheit

Anlässlich des Treffens des UN-Komitees für Ernährungssicherheit (CFS) vom 17.-22. Oktober in Rom fordert eine aktuelle Studie der Heinrich-Böll-Stiftung die Umsetzung eines effizienten, durchsetzungsfähigen und internationalen Steuerungsregimes der Welternährung. Die Studie mit dem Titel „A better global governance system for food security: essential characteristics and architecture” formuliert konkrete Schritte, wie das UN-Komitee zu einem politisch relevanten, internationalen Steuerungsgremium ausgebaut werden könnte. Bislang seien die Aufgaben zur Sicherung der Welternährung auf verschiedene internationale Institutionen verteilt, so die Studie, was zu unkoordinierten und zum Teil sogar widersprüchlichen Politiken führe.

Entscheidend sei deshalb, dass ein zukünftiges Gremium die politische Durchsetzungsfähigkeit habe, die verschiedenen Dimensionen der Welternährungssicherung wie Gesundheit, Umwelt, Handel und Wirtschaft klar aufeinander abzustimmen. Das Gremium müsse strategische Richtlinien und politische Orientierung zu den zentralen Fragen der Ernährungssicherung vorgeben, die Umsetzung dieser Richtlinien überwachen und die politische Macht haben, sie gegebenenfalls durch Sanktionen gegenüber allen Akteuren durchzusetzen.

Tatsächlich wurde das UN-Komitee für Ernährungssicherheit erst 2009/2010 reformiert. Diese Reformen seien erste sehr wichtige Schritte gewesen, sagt die Autorin der Studie, Nora McKeon, eine ehemalige Mitarbeiterin der Welternährungsorganisation (FAO): „Besonders durch die aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft hat sich die Legitimation des CFS verbessert.“ Nun komme es darauf an, die Durchsetzungsfähigkeit des CFS gegenüber allen Akteuren zu stärken, die das Menschenrecht auf Nahrung beeinflussen - Regierungen, internationale Organisationen und multinationale Unternehmen.

Ebenfalls zum Auftakt der diesjährigen Vollversammlung des UN-Komitees hat das katholische Entwicklungshilfswerk Misereor strenge und international verbindliche Regeln gegen Landraub eingefordert. Das Grundrecht auf Nahrung muss nach Auffassung von Misereor Vorrang haben vor den Gewinninteressen von Investoren. Es sei sehr zu bedauern, dass die geplante Verabschiedung der UN-Leitlinien zum Zugang zu Land verschoben wurde. Die Leitlinien sollen sicherzustellen, dass Ländereien nicht ohne Zustimmung der lokalen Bevölkerung an Investoren vergeben werden. Nach dem offiziellen Zeitplan hätten die UN-Leitlinien in dieser Woche verabschiedet werden sollen.

17. Oktober 2011

Wie die G8-Aristokratie der G20 im Weg steht

Als die Gruppe der 20 im Jahre 2008 auf Spitzenebene ins Leben gerufen wurde, pries alle Welt den Umstand, dass damit endlich die Schwellenländer ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprechend an globalen Entscheidungen beteiligt würden. Das Finanzministertreffen der G20 am vergangenen Wochenende in Paris zeigte freilich, dass die „Emerging Economies“ nach wie vor am Katzentisch sitzen. Neue Ideen sind auch mit erklecklichen Finanzmitteln nicht einfach durchzusetzen, wenn die G8-Aristokratie sich querstellt.

Im Vorfeld des Treffens hatten die Schwellenländer, vor allem China und Brasilien, die Idee lanciert und die Bereitschaft deutlich gemacht, den krisengeschüttelten Euroländern mit ihren immensen Überschüssen bei Bedarf unter die Arme zu greifen. Und dass dieser Bedarfsfall rasch eintreten könnte, ist ziemlich unumstritten: Es müsste nur ein größeres Euroland, etwa Italien oder Spanien, in die Bredouille kommen, und der europäische Rettungsschirm auch in seiner erweiterten Form wäre erschöpft. Nur wollten die Schwellenländer das Geld nicht direkt zur Verfügung stellen (etwa durch den Kauf von Bonds der betroffenen Länder), sondern indirekt über den IWF.

Unter den ventilierten Ideen fanden sich auch zwei konkrete Umsetzungsvorschläge, wie das Geld nach Europa hätte kanalisiert werden können, zwei Vorschläge übrigens, deren Praktikabilität außer Frage steht und die auch in der Vergangenheit schon angewendet wurden: Entweder könnte der IWF Anleihen ausgeben, die dann zumindest teilweise von Überschussländern aus dem Süden gekauft werden könnten. Oder man würde ein „special purpose vehicle“ (SPV) beim IWF schaffen, in das die Schwellenländer einzahlen könnten. Dies würde die Industrieländer zu nichts verpflichten, könnte jedoch die „Feuerkraft“ des IWF, die derzeit bei knapp 400 Mrd. Dollar liegt und für die Stützung weiterer Euroländer kaum ausreichen dürfte, beträchtlich erhöhen.

Dessen ungeachtet zeigten sich die größten Anteilseigner des IWF, allen voran die USA, Deutschland und Großbritannien, in Paris nicht einmal bereit, die Vorschläge ernsthaft zu diskutieren. Die finanzielle Ausstattung des IWF sei derzeit ausreichend, hieß es knapp. Nur Frankreich und natürlich die IWF-Chefin Christine Lagarde unterstützten die Schwellenländer-Initiative. Nun kann man geteilter Meinung darüber sein, ob die Finanzressourcen des IWF weiter erhöht werden sollen, wenn dieser nicht die erforderlichen Reformschritte geht. Hier zeigt sich jedoch etwas anderes: Die alten Industrieländer haben immer noch nicht aufgegeben, ihre Vormachtrolle bei der Formulierung internationaler Wirtschaftspolitik zu verteidigen. Und sie fahren fort, ihre einmal gegebenen Zusagen nicht einzuhalten: Laut Lagarde hinken die IWF-Mitgliedsländer immer noch erheblich hinter der Einlösung ihrer im letzten Jahr gegebenen Finanzzusagen hinterher. Nur 20 IWF-Mitglieder, die zusammen auf 19% der Stimmrechte kommen, haben ihre diesbezüglichen Verpflichtungen bereits erfüllt. Die USA sind nicht darunter.

13. Oktober 2011

G20-Finanzminister: Entgleiste Agenda

Wenn die Finanzminister und Zentralbank-Chefs der Gruppe der 20 am 14./15. Oktober zu ihrem letzten Treffen vor dem G20-Gipfel zusammen kommen, sind spektakuläre Durchbrüche weitgehend ausgeschlossen. Zu gravierend sind die Differenzen in Europa, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, über den weiteren Umgang mit der Eurokrise und zu dramatisch der an Schärfe gewinnende Streit zwischen den USA und China über Wechselkurse und globale Ungleichgewichte. Dass in den USA jetzt ein Gesetz auf dem Weg ist, das handelspolitische Strafmaßnahmen gegen Länder mit „zu niedrigen Wechselkursen“ ermöglicht, beschwört nach chinesischer Sicht einen neuen Handelskrieg im Stil der 1930er Jahre herauf.

Weitgehend entgleist ist angesichts solch scharfer Widersprüche auch die ehrgeizige französische G20-Agenda, nach der die G20-Präsidentschaft für eine grundlegende Reform des Weltfinanzsystems und eine Neuordnung der Leitwährungen genutzt werden sollte. Ein neuer Multiwährungsstandard, der neben dem Dollar auch den Euro und den Yuan einbezieht, scheint kaum zwei Wochen vor dem G20-Gipfel so entfernt zu sein wie selten zuvor. So bleiben für das zweitägige Treffen der Finanzminister in Paris allenfalls kleine, inkrementelle Fortschritte denkbar.

In diesen Bereich fällt ausgerechnet eine nochmalige Aufstockung der Finanzressourcen des IWF – nur zwei Jahre nach der Verdreifachung seiner Kreditmittel und der Aufstockung der Sonderziehungsrechte um 250 Mrd. Dollar durch den Londoner G20-Gipfel. Dafür ließen sich sowohl die Industrieländer als auch Schwellenländer wie Brasilien gewinnen, die eine weitere Verschärfung der globalen Krise fürchten. Weitgehend unklar ist am Vorabend des Treffens, wie weitreichend die Beschlüsse zur Eindämmung der Spekulation mit Nahrungsmitteln ausfallen werden, wenn es hier nicht gar zu einer vollständigen Blockade kommt. Desweiteren dürften die Finanzminister neue Regeln für die "Too-big-to-fail"-Problematik absegnen, die das Financial Stability Board erarbeitet hat. Doch das letzte Wort bleibt in allen diesen Fragen den Regierungschefs am 3./4. November in Cannes vorbehalten.

>>> In fortlaufender Aktualisierung wird W&E das Treffen dokumentieren: Finanzministertreffen vor dem G20-Gipfel.

9. Oktober 2011

Athen, Madrid, New York, Frankfurt?

Occupy Everything from socially_awkwrd on Vimeo.


Erst plante Attac als wesentlichen deutschen Beitrag zu dem internationalen Aktionstag für echte Demokratie und gegen die Macht der Finanzwirtschaft am 15. Oktober lediglich ein Hearing. Inzwischen entwickelt sich eine offene Diskussion darüber, ob „Occupy Wall Street“ nicht auch in Deutschland Schule machen könnte. Zunächst wollte der CDU-Altpolitiker Heiner Geißler nicht ausschließen, dass es auch in Deutschland zu vergleichbaren Protesten kommen könnte. Dann rief Oskar Lafontaine von der Linkspartei in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt die Deutschen zum Widerstand gegen die Sparpolitik in Europa auf: „Die US-amerikanische Bewegung ‚Occupy Wall Street‘ kann als Vorbild dienen“, so Lafontaine.

Bei so viel prominenter Militanz will das Attac-Netzwerk nicht nachstehen. „Es ist an der Zeit, nach dem Vorbild der Spanier, Griechen und New Yorker auch bei uns auf die Straßen zu gehen und Flagge für echte Demokratie zu zeigen“, sagte Mike Nagler vom bundesweiten Attac-Koordinierungskreis. „Wir verstehen uns als Teil dieser internationalen Demokratiebewegung.“ Attac erklärte sich solidarisch mit den Protestierenden an der Wall Street und verurteilte die unangemessenen Einsätze der Polizei.

Die Globalisierungskritiker betonten, die Zivilgesellschaften könnten sich unkontrollierte Banken, die mit eigentlich öffentlichem Geld ausufernd auf den Finanz- und Rohstoffmärkten spekulieren, nicht mehr leisten. Deshalb müsse das Primat der Politik über die Finanzwirtschaft hergestellt werden. Dies könne aber nur gelingen, wenn auch die Politik wieder unter demokratische Kontrolle gebracht werde. Die verbindenden Forderungen der internationalen Proteste seien eine echte demokratische Kontrolle der Banken- und Finanzwirtschaft, ein Stopp der Sozialkürzungen und Privatisierungen sowie der Ruf nach einer partizipativen Demokratie. Mike Nagler: "Demokratie aber lebt von Beteiligung, deswegen rufen wir die Bürgerinnen und Bürger auf, mit uns gemeinsam am 15. Oktober auf die Straßen und Plätze unserer Städte zu gehen."

Zu dem internationalen Aktionstag am 15. Oktober rufen die spanische Bewegung "Democracia Real Ya!", das europäische Attac-Netzwerk und andere Gruppen auf. Attac-Gruppen haben Proteste in zahlreichen deutschen Städten angekündigt – darunter auch vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Bei einer ganztägigen Anhörung zur Krise in Berlin will Attac den Ursachen der Krise auf den Grund gehen und Alternativen zu Sparzwang und sozialem Kahlschlag erörtern. Weltweit sind Proteste in über 300 Städten in mehr als 40 Ländern geplant.