11. November 2010

Seoul Consensus statt Washington Consensus

Der heute beginnende G20-Gipfel in Seoul ist der erste, der nicht in einem der alten G7-Länder stattfindet. Und er wird – so wollen es die Gastgeber – den Aufgabenbereich der Gruppe für Fragen der internationalen Entwicklungspolitik öffnen. „Ist das wünschenswert?“, so kann man fragen. Und die Antwort wird lauten: „Das hängt davon ab…“ Die Dokumente, die bislang vorliegen, ein Development Issue Paper der koreanischen Präsidentschaft und ein an die Öffentlichkeit gelangter Kommuniqué-Entwurf vom 3. November, lassen offensichtlich höchst gegensätzliche Bewertungen zu.

Die Übereinkunft soll „Seoul Consensus for shared growth“ genannt werden – in Absetzung vom überkommenen Washington Consensus, der die Entwicklungspolitik seit den 1980er Jahren bestimmt hat. Doch Nancy Alexander vom Washingtoner Büro der Heinrich-Böll-Stiftung sieht in dem Development Issue Paper, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gerade einen Rückfall in diesen Washington Consensus. Chang Ha-joon, mit seinem Buch „Kicking away the ladder“ einer der führenden Kritiker der WTO-Doha-Runde, sieht im Gegenteil eher einen Fortschritt in die richtige Richtung, da das „One-size-fits-all“-Modell des Washington Consensus zurückgewiesen werde. Die meisten NGOs kritisieren vor allem die Wachstumslastigkeit des neuen Ansatzes.

In der Tat wird in den kursierenden Entwürfen der Fokus der internationalen Entwicklungspolitik von der Finanzhilfe auf Investitionen, Handel und Infrastruktur verschoben. Der neue Consensus soll auf acht „Säulen“ beruhen, um Wachstum im Süden zu beschleunigen, darunter die Förderung der Infrastruktur, die Sicherung privater Investitionen, finanzielle Inklusion, soziale Sicherung, Good Governance und Ernährungssicherheit. Dies ist etwas anderes als der Dreiklang von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung (Entstaatlichung), auf dem der Washington Consensus beruhte. Selbst wenn stark auf die Generierung zusätzlichen Wachstums abgehoben wird, lässt sich bestreiten, dass es im Süden lediglich mit Umverteilung gehen wird. Die Frage lautet auch hier: Welches Wachstum? Darauf gibt der Seoul Consensus wohl keine Antwort. Aber sein Ausgangspunkt lautet ja auch: „Es gibt keine alleinige Formel für Entwicklungserfolg.“

So lässt sich die eingangs gestellte Frage vielleicht wie folgt beantworten:
* Sollte der Seoul Consensus dazu dienen, die G20 von ihren Hausaufgaben, die in erster Linie in der Reform des internationalen Währungs- und Finanzsystems bestehen, abzulenken, dann brauchen wir ihn nicht.
* Wenn er vorrangig dazu dienen sollte, die alten Industrieländer aus ihren internationalen Verpflichtungen (0,7%-Ziel etc.) zu entlassen, dann ist er ebenfalls überflüssig.
* Sollte der Seoul Consensus jedoch dazu führen, das bisherige Definitionsmonopol von OECD, Weltbank und IWF zu durchlöchern und aus den Wachstums- und Entwicklungserfolgen der Schwellenländer konzeptionelle Konsequenzen zu ziehen, dann ist er höchst willkommen.

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